"Offene Sprache (p
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a) ist das Kennzeichen der Freiheit; über das Risiko dabei entscheidet die Bestimmung des richtigen Zeitpunkts."Demokrit (Fragment 226)
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Wer hat das Recht, die Pflicht und den Mut, die Wahrheit zu sprechen?" Foucault (1996, 25).Anhang 1 - I. Stellungnahme zum Prozedere: Das Projekt "Wissenschaftlichkeit" in der Schweizer Psychotherapie Charta - einige grundsätzlich kritische Anmerkungen als offene Stellungnahme Anhang 2 - Die Integrative Psychotherapiekonferenz 1940 Literatur
Die Schweizer Therapiecharta als Zusammenschluß relevanter psychotherapeutischer Verfahren und Methoden, die durch Fachverbände und Ausbildungsinstitute in der Schweiz vertreten sind, hat auf der Grundlage eines konsensuell erarbeiteten Rahmens der Theoriestruktur (Petzold 1992q) und vorausgehenden Enquêten ein "Colloquium" bzw. eine Serie von Colloquien zwischen unterschiedlichen Richtungen der Psychotherapie – ihren Mitgliedsorganisationen – als ein Projekt begonnen, das erstmalig in der Psychotherapiegeschichte einen intermethodischen und kollegialen Austausch als öffentlichen Diskurs in der psychotherapeutischen Fachwelt über die wissenschaftliche Bonität und Qualität von Therapieverfahren und Therapieausbildungen installiert hat. Das verdient Beachtung und wurde verschiedentlich von uns in der Literatur als ein "einzigartiges Unterfangen" herausgestellt (Steffan, Petzold 2001; Petzold, Orth, Schuch, Steffan 2001). Die Colloquien finden öffentlich statt. Sie sind für Mitglieder und Nichtmitglieder zugänglich, eine Art Agora, auf der die freie Rede, die Parrhesie, Platz hat (Foucault 1996; Petzold, Ebert, Sieper 2000). Jede Form von Arcandiziplin ist damit ausgeschlossen: keine Sitzungen hinter verschlossenen Türen! Das ist bemerkenswert, aber auch notwendig, geht es doch hier um einen Diskurs zwischen Verbänden und Institutionen der Charta und damit um die Belange der Mitglieder und AusbildungskandidatInnen, die in diesen Einrichtungen zusammengeschlossen sind und damit ein vitales Interesse an diesem Prozeß haben müssen, der für Fragen der Anerkennung auf den verschiedensten Ebenen wichtig ist und wichtig werden kann.
Das Chartaprojekt liegt uns deshalb am Herzen, weil es eine "systematische Suchbewegung" als kollegialen Erkenntnisdiskurs unternommen hat, die wir als die Begründer der Integrativen Therapie als "Orientierung" (nicht "Schule"!) im Rahmen der klinischen Psychologie und modernen Psychotherapie vor Augen hatten. Wir hatten nämlich bei unseren ersten Arbeiten Mitte der sechziger Jahre einem methodenverbindenden und methodenübergreifenden Ansatz als idealen Weg des Erkennisgewinns gesehen – damals Psychoanalyse, Psychodrama und Verhaltenstherapie zugewandt (Petzold, Sieper 1970; Sieper 2001). Im Kreis von Kommilitonen mit psychoanalytischen, psychodramatischen und behavioralen Interessen hatten wir damals [seit 1965] engagierte Diskussionen über den "besten" Ansatz der Psychotherapie, bei denen bald sichtbar wurde: die Schulen haben Schwerpunkte, Vertiefungsgebiete, aber damit auch Einseitigkeiten. Wir entwickelten damals den "common and divergent concept approach", in dem wir systematisch nach gemeinsamen und unterschiedlichen Modellen und Konzepten in Theorie und Praxis der einzelnen Verfahren suchten, eine Arbeit, aus der dann das "Tree of Science"-Modell [1970] hervorging, das auch dem schulenübergreifenden Forschungsprojekt "Wege zum Menschen" (Petzold 1984a) zugrunde lag und ebenfalls von der Arbeitsgruppe benutzt wurde, die den Chartatext erarbeitete und dieses Wissensmodell aufgenommen hat (Petzold 1992q). Das Abgleichen praxeologischer Strategien war schon 1940 auf einer ersten schulen- bzw. methodenübergreifenden Konferenz (siehe Anhang 2) als Weg der Annäherung beschritten worden und scheint der Weg zu sein, den Praktiker favorisieren. Heute indes stehen andere Vorstellungen von Wissenschaftlichkeit und Forschung im Raum, und mit denen setzen sich die Chartacolloquien auseinander.
Das letzte Colloquium war eine ursprünglich nicht eingeplante "Zwischenbilanz" zum Prozedere – wir hatten auf die Notwendigkeit solcher "Zwischenreflexionen" nach dem ersten Colloquium vom 25.3. 2000 hingewiesen (Stellungnahme I, Anhang), denn sie gehören in den Prozess eines lebendigen wissenschaftlichen Diskurses. In diesem Colloquium wurden – wieder einmal – viele grundsätzliche Fragen zum Sinn der Colloquien aufgeworfen, zum Ziel der Aufhebung das "Wissenschaftlichkeitsvorbehalts", zum Prozedere, zu den Konsequenzen etc. Diese Fragen blieben für viele Teilnehmende offen und werden in das nächste Colloqium fortwirken. Weil uns die Sache der Colloquien als Mitgliedsinstitution, aber auch persönlich ein Anliegen ist, haben wir uns Gedanken gemacht und für den öffentlichen Diskurs dieses Arbeitspapier mit Überlegungen, Anregungen, Vorschlägen erstellt. Aufgrund der vielen Unklarheiten sahen wir – im Sinne des einleitenden Demokrit-Zitates - einen Zeitpunkt gekommen, im Sinne der Parrhesie, der offenen, freimütigen Rede antiker Tradition (vgl. Foucault 1996; Petzold, Ebert, Sieper 2000), einige Probleme zu thematisieren, um eine bessere Grundlage für den Diskurs bereitzustellen, schriftlich, weil die "ad hoc Diskussion" auf den Colloquiumstreffen nicht genügend Zeit, Raum und Gründlichkeit bietet, Probleme vertieft zu reflektieren.
1.1 Differentielle Zielstruktur und Metaziele – auf dem Boden einer engagierten Wissenschaft
Grundsätzlich war und ist von uns bei diesem Projekt der Colloquien kritisch anzumerken, daß die Grundlagen, Bedingungen, die Form, Regeln und die Qualität des Vorgehens bislang offenbar noch nicht hinreichend klar herausgestellt und vereinbart werden konnten, obwohl die Vorbereitungsgruppe und alle Beteiligten sehr viel Arbeit investiert hatten. Das hatte die Zwischenbilanz, das Colloquium "V", notwendig gemacht, in welchem trotz aller Anstrengungen, die unternommen wurden, um zu einer Klärung zu gelangen, kein abschließendes Ergebnis erzielt werden konnte – wechselnde Teilnehmer in den Vertretungen und unterschiedliche Informationsstände trugen nicht unerheblich dazu bei, aber wohl auch die erneute Metareflexion des (vordergründig und formal) bestimmenden "Ziels" der Colloquien, die Aufhebung des "Wissenschaftlichkeitsvorbehalts". Aber das kennzeichnet erfolgreiche Diskurse zu Zielen, daß immer die hinter Zielen stehenden Probleme, Ressourcen und Potentiale (Petzold 1997p) in größerer Differenziertheit in den Vordergrund kommen und damit auch Fragen nach dem Ziel/den Zielen erneute Thematisierungen erfahren, eine differentielle Zielstruktur sichtbar wird. Mit dieser verbunden müssen auch Fragen nach dem "Weg", nach formalen Grundlagen, nach dem Prozedere und nach den Konsequenzen aufgeworfen werden. Aufgrund unserer eigenen Überlegungen "im Prozeß" der Colloquien sind wir derzeit der Auffassung , daß weitere Hauptziele, die implizit anwesend und wirksam sind, explizit gemacht und auf mögliche Ziel-Ziel-Konflikte reflektiert werden müßten. Wir sehen da folgende implizite Ziele und die haben natürliche auch spezifische Hintergründe. Weitere Ziele für die Chartacolloquien sind sicherlich vorhanden:
Bei solchen Zielsetzungen werden weitere implizite Ziele sicher verwirklicht werden können, besonders, wenn sie explizit gemacht werden – wieder und wieder
Betrachten wir die Colloquiumsfragestellungen, die Themen, ihre Beantwortung und die Schwerpunkte der Diskussion, so fällt auf, daß das PatientInnenwohl, um das es bei allen Bemühungen um Wissenschaftlichkeit doch gehen muß, kaum thematisiert wird und das keine VertreterInnen von Patienten/Patientinnen-Organisationen einbezogen wurden und anwesend sind, noch nicht einmal im Beobachterstatus, obgleich wir an den SPV im vergangenen Jahr den Antrag gestellt hatten, Patientenorganisationen die Mitarbeit in relevanten Gremien und Projekten zu ermöglichen (das Schreiben abgedruckt in Petzold 2000d) im Sinne des Transparenz- und des Partizipationsprinzips – und die Colloquien sind durchaus als ein solches Projekt zu betrachten.
Ohne dieses Hintergrundsziel der Gewährleistung von Patientensicherheit und Patientenrechten im Sinne einer engagierten Wissenschaft wird das Ziel der Wissenschaftlichkeit von Psychotherapie nur l’art pour l’art.
1.2 Probleme der Legitimation im Wissenschaftlichkeitsvorbehalt
Eine Überprüfung von Wissenschaftlichkeit hat einen Legitimationsanspruch im Hintergrund. Wer verlangt Legitimation? Das ist zu fragen. Die direkten und indirekten Antworten, die wir aus den Colloquien bislang herausgelesen haben, lauten: Die Kostenträger, die Politik, die Öffentlichkeit, die universitäre Wissenschaft, die "scientific community". Die zentrale Antwort, die u. E. gegeben werden müßte, haben wir in den Texten nicht deutlich genug gefunden: die PatientInnen, unsere PartnerInnen (vgl. Petzold 2000h) – und hier können Deutlichkeit und Konkretisierungsperspektiven (idem 2000d; Petzold, Gröbelbauer, Gschwend 1998) gar nicht prägnant genug sein. Wir haben unser Handeln, unsere Fachlichkeit, unsere Wissenschaftlichkeit aus ethischen und rechtlichen Gründen (haftungsrechtlichen auch, z. B. informierte Übereinstimmung, Risikeninformation) den PatientInnen gegenüber zu legitimieren. Aus welchen Gründen auch immer: dieses Thema ist zu kurz gekommen und das sollte analysiert und dann gründlich geändert werden durch die explizite Einführung dieser Persepktive – und dann werden sich Problematiken anders darstellen und man wird z.B. für Methodenvielfalt aus prinzipiellen Gründen eintreten müssen, auch für Methoden, die noch nicht einen Wissenschaftlichkeitsnachweis erbringen können (sie müssen es intendieren, die Community muß sie darin fördern, begleiten, und auch kontrollieren, wo notwendig), weil in der Vielfalt von Methoden Chancen für neue Entwicklungen und Heilungschancen liegen und wir als Community für unsere Patienten Wahlmöglichkeiten bereitstellen müssen, die differentiellen Bedürfnissen und persönlichen Besonderheiten zu entsprechen vermögen. Das allerdings setzt die selbstkritische Ehrlichkeit voraus, daß das eigene Verfahren – wie "integrativ" oder "analytisch" es auch immer sein mag – nicht alles abdecken kann.
Parrhesie, die offene, wahrhaftige Rede im Dienste bedeutsamer Ziele, ist eine ethische Grundposition für die Psychotherapie, die in den oben genannten Zielsetzungen immer wieder durchscheint und deshalb auch deutlich, explizit gemacht werden sollte. Bei Moreno - neben Freud einer der frühen Pioniere der Psychotherapie - finden wir eine solche explizite ethische Grundposition. Für ihn sind PsychotherapeutInnen/Psychodramatikerinnen "Träger der Wahrheit, bearer of the truth" im Engagement für das Wohl von Patienten und für eine humane Welt, in der sie Humanität und Wahrheit repräsentieren und zur Verwirklichung verhelfen: "Ein wahrhaft therapeutisches Verfahren darf nicht weniger zum Ziel haben als die gesamte Menschheit" (Moreno 1953), denn das "Elend der Welt", wie Bourdieu (1997) in seinem gleichnamigen Buch beeindruckend zeigte, geht alle an, und gegen brennende Not "Gegenfeuer" zu legen (idem 1998), darum ist es der therapeutischen Ethik von Moreno zu tun, der ein fundamentales "wir" mit seinen Konzepten des "sozialen Netzwerkes" und der "Lage" in den Raum stellt und affirmiert, daß Probleme nur gemeinsam angegangen und beseitigt werden können, wenn Menschen sich begegnen und Verantwortung füreinander und für die Welt übernehmen. In diesen Kontext stellte Moreno Wissenschaft, praktizierte er engagierte Wissenschaft – z. B. seine großen soziometrischen Forschungsprojekte (idem 1934) als "hot sociometry", als engagierte Forschung und Wissenschaftlichkeit (idem 1951; Petzold 1984b; Buer 1991, 1999). Neben Bourdieus (1980, 1998) Konzepten einer "eingreifenden Wissenschaft" (Leitner 2000; Sieper, Petzold 2001c) fände man hier eine Metaposition für die Frage nach der Wissenschaftlichkeit, für die Betrachtung ihrer Hintergründe, der "Ursachen hinter den Ursachen, aber auch der Folgen nach den Folgen" (Petzold 1994c, 2000h). Mit Moreno könnte und müßte gefragt werden: "Was hat uns ins diese Lage gebracht? Worin besteht diese Lage? Was führt uns aus dieser Lage heraus?" (idem 1923). Diese Frage als eine systematische ist nicht nur für die Lage von Patienten zu stellen (Petzold 2000h), sondern auch für die Lage ihrer Therapeuten, denn sie bilden eine "community". Das besondere von Therapie und Therapieforschung, von therapiebezogener Wissenschaftlichkeit ist, daß alles im Dienste einer community steht, die die PatientInnen, ihre Angehörigen und Netzwerkmitglieder und ihrer TherapeutInnen umfaßt. Ihre gemeinsame Wahrheit, Verantwortung und Aufgabe ist es, Leiden und Krankheit zu überwinden und miteinander an menschenwürdigen Verhältnissen, an Gesundheit und Wohlbefinden zu arbeiten.
Mit einer solchen ethischen Metaposition und vor der Analyse es Hintergrundes unter der Morenoschen Frage: "Was hat uns in diese Lage gebracht?" lassen sich die Probleme der Colloquien u. E. anders, besser angehen.
"Der Träger der Wahrheit tut, was er tut, aus dem innersten Verlangen, Wahrheit und Gerechtigkeit und Menschenliebe zu verwirklichen ohne Rücksicht auf die Folgen für sich ... Er tut, was er tut, weil es getan werden muß. Es ist ein moralischer Imperativ ... Er interveniert in eine Situation, die eine Korrektur benötigt ... mit seiner eigenen Person ... er hat selbst zu intervenieren, denn es ist seine Verantwortung" (Moreno 1964, unsere Hervorhebung). In ähnlicher Radikalität haben Emmanuel Levinas (1983) mit seinem Konzept grundsätzlicher Verantwortung und bedingungsloser Wertschätzung der "Andersheit des Anderen" und Gabriel Marcel mit seiner existentiellen Verortung der Menschenwürde in der Intersubjektivität (Petzold 1980g, 1996j) Maßstäbe gesetzt, von denen her Wissenschaftlichkeit im Felde der Therapie Sinn, Zweckhaftigkeit und Legitimierung erhalten kann.
Die Sorge um die Gewährleistung von Therapie in einer Qualität, die Menschen (und damit der Gesellschaft) zugute kommt und das auf einem Niveau, das Humanität mit optimaler Fachlichkeit und Sicherheit verbindet, das ist der Rahmen, in den die Diskussionen um Wissenschaftlichkeit im Rahmen der Colloquien immer wieder eingebunden werden müssen, um die Gewißheit eines prioritären Bodens zu haben, der maßgeblicher sein muß als die Forderungen nach Wirtschaftlichkeit und Zweckmäßigkeit und der auch der Forderung nach Wissenschaftlichkeit eine durchtragende Begründung geben kann.
Die explizite Benennung der voranstehend herausgehobenen "impliziten Ziele" und ihres ethiktheoretischen Fundaments würde nicht nur die Legitimation des Colloquiumsprojekts stärken, sie hätte u. E. einen bestätigenden Effekt für den hohen Arbeitseinsatz und das außergewöhnliche Engagement aller beteiligten Personen und Institutionen im Colloquiumsprozeß sowie der Integrität und Fairness seiner Diskurskultur, bei dem dissente Argumente Raum haben können als "respektvoller Dissens", welcher in einer Wertschätzung von Differentem gründet. Foucault hat in seinem Werk deutlich gemacht, daß das Differente nicht zuletzt am Phänomen der seelischen Erkrankung, des Wahnsinns überdeutlich wird und auch, wie Gesellschaft mit dem Andersartigen umgeht – allzu häufig mit Marginalisierungen, harten Ausgrenzungen. Seine Analysen zeigen, daß Ausgrenzungen sich reproduzieren, wo Dispositive der Macht zum Tragen kommen (Dauk 1989). Deshalb gilt es, in der Charta für Ausgrenzungsdynamiken sensibel zu sein, ohne prioritäre Ziele wie das Patientenwohl und den "patient security" durch fachliche Qualität aus dem Auge zu verlieren. Hier werden Güterabwägungen und Zielkoordinierungen notwendig.
Wenn man sich bewußt macht – wieder und wieder -, daß das Andere, das Fremde allzu oft von uns als bedrohlich konnotiert werden, der Ort des Anderen, der andere Ort (heterotopos) uns oft als Fremde, befremdlich und als Gefahr erscheint, die uns Angst macht, wie Devereux (1967) gezeigt hat, dann können diese Ängste auch angegangen und überwunden werden und es wird die Erfahrung möglich, daß in Begegnung und Auseinandersetzung mit dem Anderen an den Grenzen von Heterotopien "Blitze des Werdens aufflammen" (Foucault 1998). In solcher Praxis und auf solchem Boden kann das wachsen, was wir als "fundierte Kollegialität" (im Unterschied zu banaler) bezeichnet haben (Petzold, Orth 1997) und wird Wissenschaftlichkeit von einem Konzept engagierter und eingreifender Wissenschaft unterfangen und erhält damit einen breiteren Sinn.
1.3 Zur Bestimmung von Wissenschaftlichkeit durch die Colloquien
Vor dem Hintergrund der voranstehenden Reflexionen kann deutlich werden: Die immer wieder thematisierten Probleme um das explizite Hauptziel der Colloquien- "Aufhebung des Wissenschaftlichkeitsvorbehaltes" - haben gewichtige Gründe in Ziel-Ziel-Konflikten: ein Ziel kann nämlich auch sein, den Wissenschaftlichkeitsvorbehalt nicht aufzuheben, was als Konsequenz irgendeine Form des Ausschlusses oder der Herabstufung aus vormals gleichrangiger Kollegialität hat, es sei denn, man kommt zu anderen Lösungen oder Regelungen, die auch vorrausgreifend erarbeitet werden müßten – und das steht noch aus, ist überfällig. Eine Selektion, die hier als Möglickeit im Raum steht, widerspricht den aufgeführten "impliziten Zielen" und ihrem ethiktheoretischen Hintergrund und ist mit Blick auf die Legitimationsfrage auch nochmals spezifisch zu reflektieren. Hinzu kommen weitere Probleme, von denen eines exemplarisch benannt sein soll. So ist ein Ziel-Mittel-Konflikt gegeben: für das Ziel möglicher Selektion aufgrund objektivierbarer Qualitätskriterien wird das Mittel der "peer review" gewählt, ein guter Weg, aber dabei muß folgendes gewährleistet sein:
Kaum etwas davon ist bislang gegeben. Es muß deshalb dringend über die Ziele und die dahinterstehenden "Probleme, Ressourcen und Potentiale" (Petzold 1997p), über die Metaziele, über die Hintergründe der Lage und über die Folgen bzw. die Folgen nach den Folgen sorgfältig nachgedacht werden. Um den Boden der Metareflexionen zu verlassen: über die Mittel (z. B. Auflagen, Ausschluß ezc.) und vor allen Dingen über die Folgen für die einzelne Institution und ihre Mitglieder und AusbildungskandidatInnen muß dringend nachgedacht und Klarheit geschaffen werden.
Dabei ist zu fragen, wer und was mit Blick auf Wissenschaftlichkeit beurteilt wird. Das ist nicht klar. Zu den schon angesprochenen Legitimationsproblemen kommen noch andere, banalere: Eine solche Urteilsfindung kann sich rechtlich nur auf Mitgliedseinrichtungen der Charta, in concreto Ausbildungsinstitutionen - in der Schweiz bzw. in der Schweiz als Mitglieder tätig - richten, und zwar für ihre Tätigkeit in der Schweiz. Das ist der Raum der Iurisdiktion der Charta. Damit wird die Überprüfung von Wissenschaftlichkeit von Verfahren der Psychotherapie, die internationalen Charakter haben und durch internationale "communities" mit jeweils nationalen Fachverbänden vertreten sind, problematisch (vgl. 6.2). Die Wissenschaftlichkeit der Verfahren müßte dann mit den zuständigen wissenschaftlichen Fachverbänden, sofern solche Mitglied sind, überprüft werden – diese könnten allerdings ihre Repräsentation an ein Ausbildungs- oder Forschungsinstitut deligieren. Wird eine solche Überprüfung von der Charta vorgenommen, muß sie sich dabei klar sein, daß sie sich in ihrer Urteilsfindungen in Konsens oder Dissens, eventuell in eine kontroverse Situation mit übergreifenden nationalen und internationalen "scientific communities" (wissenschaftliche Gesellschaften von Psychologen und Ärzten/Psychiatern oder Zusammenschlüsse von Psychotherapieforschern) begibt, mit "professional communities" (Berufsverbänden von Ärzten und Psychologen), in Konsens/Dissens mit öffentlichen wissenschaftlichen Einrichtungen (Universitäten, nationale Forschungsfonds) und ggf. mit öffentlich, z. B. ministeriell bestellten Kommissionen – und solche Kommissionen werden im Rahmen eines Gesetzgebungsverfahren wahrscheinlich kommen. Hintergrund werden dabei zweifelsohne allgemeine Standards von Wissenschaftlichkeit sein, auf die man sich beziehen wird.
Wissenschaftlichkeit in einer Art, wie sie von den internationalen "scientific communities" in den Sozial- und Humanwissenschaften ("humanities") gefordert wird, ist für ein ausgereiftes psychotherapeutisches Verfahren gänzlich unverzichtbar und zu dieser Wissenschaftlichkeit gehört – wiederum unverzichtbar - auch quantitative Forschung im nomothetischen Paradigma.
Die Prüfungskriterien und Standards der genannten Körperschaften und communities– auf nationaler und internationaler Ebene – müßten deshalb erhoben, geprüft und adaptiert werden, um sie in hinlänglichem Konsens mit einer "scientific community" anwenden zu können. Anhand solcher Standards werden auch Differenzen, Abweichungen von den Standards erkennbar und die sind keineswegs per se als ein "Stigma" (sensu Goffman) zu sehen. Zu solcher Differenz, und zwar wertzuschätzender kann auch gehören: das noch nicht vorliegen von Wissenschaftlickeit! Innovative Entwicklungen in der Psychotherapie gehen oft aus Leistungen eines "intuitiven Erfassens" von außergewöhnlichen TherapeutInnen hervor. Es kommt damit häufig zu einer relativ langen präinstitutionalisierten Phase (die Zeit vor einer Verbandsgründung, einer curricularen Vermittlung etc.) und das ist in der Regel auch eine "vorwissenschaftliche" Phase, die meist noch lange über die dann erfolgende Institutionaliserung anhält, sofern keine überhitzten, oft sehr stark kommerzialisiert motivierten Prozesse (Ausbildung als businesss, Ausbildungsmarkt) akzelerierend wirkt. Dieses Eindrucks kann man sich allerdings zuweilen allerdings nicht erwehren, wenn Methoden ohne ausreichende klinische Erprobung und Erfahrungsbildung mit klinischen Populationen (vom Wirkungsnachweis einmal ganz zu schweigen und vom Nachweis der Nebenwirkungsfreiheit und letzterer geht nur durch nomothetische Forschung) als Ausbildungsverfahren angeboten werden. Stehen sehr hohe Standards im Raum – und man muß sie verlangen -, können sie bei jungen Verfahren und kleinen Bewegungen eine organische Entwicklung verhindern, denn sie erhalten zu wenig Zeit für solide und seriöse Elaboration. Der drohende Ausschluß oder die fehlenden Möglichkeiten aufschließen zu können und Anschluß zu finden, müssen ernst genommen werden: Wer kann die "Durststrecken" bei der Entwicklung eines neuen Verfahrens durchhalten, bekommt ohne Anerkennung genügend AusbildungskandidatInnen, die er braucht, um in genügend breiter Weise Patientenarbeit machen zu können, die wiederum überhaupt erst Basis ist, um Forschung machen zu können und Wissenschaftlichkeit aufzubauen? Es wäre doch ernsthaft jetzt im Colloquienprozess und nicht erst am Schluß die Frage aufzuwerfen, - jeweils mit einer realistischen Selbstbewertung - welche Chartamitglieder auf welchem Stand der Verfahrensentwicklung, Professionalisierung und Wissenschaftlichkeit sind, um dann zu angemessenen und verantwortlichen bzw. verantwortbaren Differenzierungen zu kommen, die seriöse Entwicklungspotentiale bergen. Ansonsten kommt es zu Ansprüchen und Geltungsbehauptungen, die einer wirklich sorgfältigen Nachprüfung – und Wissenschaft muß akribisch sein - nicht standhalten können, und dann werden Standards auch zu einer Existenzbedrohung. Eigene Wissenschaftlichkeit sollte kein "Muß" sein. Wissenschaftliche Fundiertheit würde sich durch die Zugehörigkeit zu einer übergeordneten "professional and scientific community" (z.B. Charta und die in ihr repräsentierten main streams) erreichen lassen, wenn diese communities eine unterstützende, fördernde, normgebende, allerdings auch eine kontrollierende Funktion gewinnen könnten, und das könnte sich sicherlich positiv auswirken. Wissenschaft muß Wissen schaffen, das ist ein prozessuales Geschehen. Wissenschaftlichkeit – wie sie in der Charta (und etwa in verschärfter Form von den deutschen Richtlinienbestimmungen) als Eintrittskriterium für die Mitgliedschaft in der community gefordert wird, steht in der Gefahr, die Anfangsstadien des "Wissen-Schaffens" zu übersehen und so zu einer innovationsverhindernden Schranke zu werden, die auch den wissenschaftlichen Fortschritt be-/verhindern kann, weil das Wesen wissenschaftlicher Entwicklungsprozesse in der Psychotherapie nicht verstanden wird – von der Paradigmenentstehung bis zu Paradigmenwechseln (Kuhn 1970), die in der Psychotherapie anders als in der Physik sind und deshalb Spezifizierungen zum Kuhnschen Paradigmenkonzept erforderlich machen(Petzold 1992g)!
Partikularistische Lösungen werden hier allerdings auch nicht greifen, geschweige denn durchtragen. Es muß "Anschlußfähigkeit" auf verschiedenen Ebenen gewährleistet werden. Bei international verbreiteten Verfahren wird eine Abstimmung mit der übergeordneten "Community" (repräsentiert etwa durch die "community of peer organizations", z. B. die "Society for Psychotherapy Research", die SEPI, die Deutsche Gesellschaft für Psychologie etc.) unerläßlich, um als "peer" gewichtet und akzeptiert zu werden. Eine grundsätzliche Dissensstellung zu diesen communities könnte für die Charta und ihre Mitglieder gravierende Folgen haben, und das sollte für die Aufnahme von Verfahren und die Feststellung ihrer Wissenschaftlichkeit bedacht werden. Wir können solche Überlegungen aus den Dokumenten bislang nicht ersehen. Bestehen sie, so sollten sie für die Mitglieder öffentlich und zugänglicher gemacht werden nebst der Beantwortung der Fragen:
Welche Gründe, Ziele und Funktionen hat die Feststellung eines Wissenschaftlichkeitsvorbehaltes in der und für die Charta in ihrem Kontext?
Bei den Ausbildungsinstituten als Mitgliedern liegt die Sache anders. Hier wird nicht Wissenschaftlichkeit, sondern wissenschaftliche Fundiertheit zu fordern und zu überprüfen sein (vgl. näheres Punkt 6.2) und das erfordert andere Orientierungen in der Überprüfung und entspricht auch mehr dem, was die Institute tun: Vermittlung von wissenschaftlichen und praxeologischen Inhalten. Es wird ihrer Realität gerecht und auch der Realität der Charta in ihrem rechtlichen, fachlichen und ideellen Bezug zu ihren Mitgliedern.
Als eine durch das Land Nordrhein-Westfalen nach langwierigem Prüfverfahren 1982 staatlich anerkannte Institution der beruflichen und wissenschaftlichen Bildung (EAG), die mit zwei universitären Zentren (Zentrum für IT, Freie Universität Amsterdam, Zentrum für Psychosoziale Medizin, Donau-Universität Krems) in festen Kooperationen steht und auch auf Grund ihrer Forschungsarbeit mit dem Nachweis von Wissenschaftlichkeit keine sonderlichen Probleme hat, ist uns aus Gründen der Kollegialität eine faire und angemessene Lösung der offenstehenden Frage ein besonderes Anliegen. Durch das Aufnahmeprozedere der Charta und ihr Junctim von Ausbildungsbonität, Therapiewirksamkeit und Wissenschaftlichkeit des vertretenen Verfahrens – all diese Dimensionen hätten jeweils vorab geklärt werden müssen - ist für einige Institute und Ansätze eine sehr ungute Situation entstanden, die sich in diesem Prozeß artikulieren muß: ein solcher gravierender Vorbehalt wie der der Wissenschaftlichkeit hätte in der Tat vor der Aufnahme erfolgen müssen, und das wird nicht dadurch ausgeglichen, daß man dann allen Mitgliedern gegenüber undifferenziert einen Wissenschaftlichkeitsvorbehalt ausspricht. Die "Wissenschaftlichkeit" der einzelnen Verfahren war nach unserer Einschätzung in jedem Falle bei fachlichem Blick im Vorherein erkennbar, und auch die Möglichkeit oder Unmöglichkeit, Defizite in überschaubarer Zeit beizuarbeiten. Wo wissenschaftliche Internationalität nicht gewährleistet ist, international gesehen keine Anbindung an universitäre und klinische Forschung und an klinische Einrichtungen vorliegt, können die Kriterien der Wissenschaftlichkeit und die Vorgaben der Colloquien nicht erfüllt werden. Es ist ja nicht mit der Erstellung von Papers getan, sondern dahinter muß eine durch Publikationen und Forschung dokumentierbare Substanz des Verfahrens stehen und sichtbar werden, die von "jungen Verfahren" so nicht zu leisten ist. Für diese Situation sind keine Wege vorgesehen, die aber gilt es zu finden, denn ein "closed system der Etablierten" muß vermieden werden.
Eine Lösung aus dem damit entstandenen Dilemma kann u. E. derzeit für die Institute nur durch Zuordnungen zu, Anschluß an und Kooperation mit akzeptierbaren Mainstreams erreicht werden (welche indes solche Kooperationen akzeptieren müßten! Und das könnte nicht immer gegeben sein. Sie müßten überdies Infrastrukturen aufbauen, die z.T. noch nicht gegeben sind etwa bei den körperpsychotherapeutischen Gruppen). Zumindest wäre das zu diskutieren.
Wir hatten uns nach dem ersten Colloquium schon einmal in diesem Sinne mit einer dezidierten Stellungnahme (I) zu dieser ganzen Problematik geäußert (Petzold, Sieper 2000, im Anhang 1 zu diesem Text). Wenn die genannten Probleme fortschleppt werden, droht das Resultat, daß aus den dann anstehenden Entscheidungsfindungen über die Aufhebung des Wissenschaftlichkeitsvorbehaltes Auseinandersetzungen entstehen können – eventuell sogar rechtliche (bei einem Ausschluß) – oder und keineswegs besser, daß es zur Aufhebungen aller Vorbehalte kommt, und das wäre von der Güte des Entscheids her nicht zu tragen sowie nach außen kaum zu vertreten. Damit aber könnte die gesamte Zielsetzung des Prozederes, Qualitätssicherung nach außen und innen zu demonstrieren, gefährdet werden. Die Charta hat sich mit diesem Projekt, daß ja in der Fachöffentlichkeit inzwischen bekannt ist, durchaus exponiert ("aus dem Fenster gelegt", wie man umgangssprachlich sagt). Sie ist damit auch zu einer Transparenz verpflichtet im Hinblick auf die Bedingungen, das Prozedere und die Ergebnisse. Das letzte Colloquium V– die Zwischenevaluation – hat gezeigt, daß die Klarheit der Bedingungen und Ziele und auch das Prozedere bislang eben nicht klar genug für alle Beteiligten sind. Und das hat u.a. genau in die Probleme geführt, die wir schon in unserer ersten Stellungnahme (Petzold, Sieper 2000, Anhang 1) benannt hatten und denen wir hier, Materialien aus den Diskussionen der Zwischenbilanz aufnehmend, weiter nachgehen. Wenn so offensichtlich bei beteiligten InstitutionsvertreterInnen kein hinreichender Konsens über die Ziele vor (Zielunklarheit, Ziel-Ziel-Konflikte), über die Mittel (Ziel-Mittel-Konflikte), über das Prozedere (prozedurale Unklarheit) und über die Konsequenzen (Effektunsicherheit, Auswirkungen und Nachwirkungen) vorliegt oder zu erreichen ist oder sein wird, möchten wir nochmals, wie schon in unserer "Stellungnahme I" vorschlagen, den Colloquiumsprozess "umzuwidmen" in eine "institutionalisierte Ko-respondenz", einen Polylog. Das ist in sich schon Aufgabe genug. Die Chartacolloquien sind mit Teilnehmern sehr unterschiedlicher Verfahren und Institutionen eine sehr komplexe Aufgabe angegangen, einen Konnektivierungsprozess zwischen theoretisch und praxeologisch Ansätzen, wie er u.a. im Chartadokument selbst und den abgestimmten Ausbildungsstandards Ausdruck gefunden hat. Dieser Prozeß könnte durch die Colloquien noch weiter vorangetrieben werden in Richtung einer "Integration durch Konnektivierung" (nicht durch Assimilation oder Amalgamierung) bei Wahrung der Eigenheiten und Besonderheiten der konnektivierten Ansätze. Dabei ist auf das durchaus prekäre Wechselspiel – oder die Dialektik - von integrierendem Annäherungsinteresse und identitätssichernden Abgrenzungsbestrebungen zu achten und ihnen Aufmerksamkeit und Zeit zur Thematisierung zu schenken. Die Anlage des Colloquiumsprojekts – und vielleicht ist das zunächst auch nicht anders machbar – ist im wesentlichen darauf gerichtet, das Bestehende zu dokumentieren und in einem "Diskurs" zwischen den Vertretern der Chartamitglieder vorzustellen. In Ansätzen ist man auch daran gegangen, die Texte zu bewerten, ohne daß allerdings die Bewertungsparameter explizit gemacht worden wären. Nimmt man den Auftrag des Colloqiums ernst, die Wissenschaftlichkeit von Verfahren mit Blick auf das Aufheben eines Wissenschaftsvorbehalts zu dokumentieren (und so wurde er in den schriftlichen Unterlagen vermittelt), so wird damit auch eine wissenschaftliche Darstellung und ein wissenschaftliches Niveau eingefordert. Beurteilungen müssen sich dann auch an einem solchen Anspruch ausrichten. Dieser Anspruch wurde u. E. bislang aber nur ansatzweise eingelöst.
2. Um welche "Diskurse" geht es?
Will man einen Wissenschaftsdiskurs in Gang setzten, der nicht nur, wie dies für den bisherigen Colloquiumsverlauf charakteristisch ist, im wesentlichen beim Bestehenden verharrt, (also nicht intendiert zwar, aber de facto Innovation eingrenzt), sondern der auf ein wechselseitiges "Voneinander- und Miteinander-Lernen" abzielt (was auch zur Revision von Positionen führen kann und sollte), dann muß der diskursive Rahmen explizit gemacht werden und das fehlt bislang: Handelt es sich um einen "Diskurs" im Sinne der regelgeleiteten Argumentation des "Erlanger Modells" (Kambartel 1974) oder einen "herrschaftsfreien Diskurs" über Geltungsansprüche, bei denen das bessere Argument zählt im Sinne von Habermas (1971) oder um einen Prozeß im Sinne des "Ko-respondezmodells" (Petzold 1978c, 1991e)? Diese Fragen sind ungeklärt, und es kam noch zu keiner konsensgetragenen Entscheidung unter Reflexion der vorgegebenen (Von wem?) Diskursbedingungen – etwa mit Blick auf zu ziehende Konsequenzen bei Nichtaufhebung des Vorbehalts, was für das Habermassche Diskursmodell eine höchst fragwürdige, ja eigentlich inakzeptable Kondition wäre. Diese ungeklärten Bedingungen führen deshalb auch immer wieder zu Problemen in der Arbeit auf den Colloquien und erweisen sich als Hindernis für eine produktive Diskurskultur genauso wie ungeklärte Begriffe. Deshalb hier kurz eine Klarstellung für diesen Text. - "Diskurs" als Begriff im Normaldruck wird in diesem Text in der gängigen Bedeutung des Fachgesprächs gebraucht, der rational organisierten, (in der Regel) wissenschaftlichen Rede und Argumentation. - Diskurs, kursiv geschrieben, bezeichnet das Diskurskonzept sensu Habermas (1971), der vernunftgeleiteten diskursiven Auseinandersetzung über Geltungsansprüche in einem kontrafaktischen "herrschaftsfreien Raum" (den die DiskurspartnerInnen zu gewährleisten sich verpflichten müssen und in dem Ausschlußdrohungen nicht sein dürfen), wobei das bessere Argument zählt und die "vernünftige Rede" in den Grundstukturen sprachlichen Handelns angelegt ist. Wir haben diesem Modell eine Alternative, die den Umgang mit Herrschaftsrealitäten berücksichtig, an die Seite gestellt: das Ko-respondenzmodell (Petzold 1978c, 1991e). - "Ko-respondenz ist Begegnung und Auseinandersetzung in Konsens- und Dissensprozessen zwischen Subjekten und ‘communities‘ über Probleme, um zu gemeinschaftlich getragenem Konsens und/oder im repektvollen Dissens zu von allen Beteiligten akzeptierten Konzepten zu kommen, die Kooperation und ggf. kokreative Überschreitungen mit transdisziplinären Qualititäten ermöglichen".(idem 2000h). - Diskurs, fett gesetzt, verwenden wir im Sinne von Michel Foucault (1966, 1974, 1978; 1998) als spezifisch geregelte Verknüpfungen oder Formationen von Aussagen/énoncé und – erweitert - als Fortschreibung von Sinnzuweisungen und Regeln, die - von der Macht anonymer Kräfte bestimmt – in institutionellen und alltäglichen Praxen und ihren Diskursen (z.B. Gesprächen und Aktionen von MitarbeiterInnen) bzw. in Diskursen (z.B. diskursiv ausgerichteten Arbeitsgruppen von KollegInnen) zum Tragen kommen, zumeist unbemerkt von den Akteuren, Argumentierenden, durch deren Diskurse/Diskurse ein "anderer Diskurs" hindurchklingt und Wirkung entfaltet, so daß unversehens ein "anderer Sinn" regiert, z. B. eine emanzipatorisch intendierte Argumentation de facto repressiv wird (Foucault 1974; Bublitz et al. 1998
Die Colloquien versuchen, das zeigt sich in ihren Treffen und in ihrer Arbeit, eine diskursive Kultur zu entwickeln. Ihr Anspruch – er wurde letztlich "von außen" an die Charta herangetragen - ist dabei der eines "wissenschaftlichen Diskurses". Die Praxis zeigt aber, das der Diskurs bei den Colloquiumstreffen mehr wie ein "agogischer Diskurs" oder zuweilen wie ein "therapeutischer Diskurs" geführt wurde, bei dem die Beziehungsdimension zu Lasten der Sachdimension imponiert. Wissenschaftliche Diskurse aber sind anders! Die Sachdimension steht im Vordergrund. Sie dürfen, ja müssen durchaus strittig sein, in einem fairen, aber in der Sache klaren Klima, ohne Rücksicht auf "letzte Zwecke" und das gilt auch für den Bereich der Psychologie und Psychotherapie, wie schon einer der "Ahnherren" dieser Disziplinen wußte: "Also: ob die psychologische Beobachtung mehr Nutzen oder mehr Nachteil über die Menschen bringe, das bleibe immerhin unentschieden; aber fest steht, daß sie notwendig ist, weil die Wissenschaft ihrer nicht entraten kann. Wissenschaft aber kennt keine Rücksichten auf letzte Zwecke [ ...]. Wem es aber bei dem Anhauche einer solchen Betrachtungsart gar winterlich zumute wird, der hat vielleicht nur zu wenig Feuer in sich" (Nietzsche, MA I, 478f).
Der Dissens ist im wissenschaftlichen Diskurs von zentraler Bedeutung, die Stimmigkeit des Arguments unter wissenschaftlichen Kriterien (z.B. der "Objektivität, Validität, Reliablität" im nomothetischen Paradigma oder der "Konsistenz, Kohärenz, Bewährtheit" im idiographischen) ist unverzichtbar.
Das Diskursmodell, dem bislang in den Colloquiumstreffen Raum geben wurde, steht in der "human potential tradition" oder ist als ein andragogisches anzusprechen – bis in das methodische Vorgehen, etwa mit der Fish-Bowl-Technik aus der Gruppendynamik, unspezifischem Feedback, statt wissenschaftlicher Kommentierung, etwa mit gegenteiligen Forschungsergebnissen oder mit Theorieverweisen dokumentierten Annotationen – Gegendiskursen also. Das Modell der "Themenzentrierten Interaktion" (nach Ruth Cohn) ist ein Beispiel eines solchen Typus des agogischen Diskurses, der die Qualität der Colloquien bislang bestimmt hat, und in diesem Typus geht es nicht um das Ringen um wissenschaftliche Erkenntnisse und Wahrheiten (Habermas 1973), sondern um ein Lernen in Beziehung auf der interpersonalen Ebene mit Inhalten, die wesentlich die "Human Relations" betreffen. Es ist nicht auszuschließen, wissenschaftlichen und agogischen Diskurs zu verbinden, aber das erfordert Klärungsarbeit, die bislang nicht geleistet wurde, so daß es durch die unterschiedliche Interpretation im Bezug auf die Mittel und die Diskursform in den Colloquien immer wieder zu kontaminierten Diskursen kam, weil einige Kolleginnen in einem wissenschaftlichen, andere in einem agogischen Diskurs argumentierten. Ob ein therapeutischer Diskurs mit einem wissenschaftlichen hybridisiert werden kann, ist noch nicht ausgemacht. Habermas (1971) postulierte (kontrafaktisch nehmen wir an) für seinen Diskurs Freiheit von Übertragungen und Projektionen.
Die Voraussetzungen des Diskurses der Chartacolloquien sind aber noch in anderer, wesentlicherer Weise ungeklärt, denn es bleibt die Arbeit zu leisten, daß "auch ... PsychotherapeutInnen, die sich ihrer Quellen vergewissern wollen, in ihrem Untergrund graben müssen, wie Nietzsche das empfiehlt (Morgenröte I, 1011), wenn sie sich nicht – wie derzeit zu befürchten – in einem verflachten Verständnis konformistischer Psychotherapie verlieren wollen" (Petzold, Orth, Sieper 2000). Auch wenn man sich in der Charta "an einen Tisch" gesetzt hat, um (wie gesagt bislang noch "unspezifisch") neue Weg der "Begegnung und Auseinandersetzung" um Theorie und Praxis zu beschreiten, darf nicht ausgeblendet werden, unter welchen Gegenwartsbedingungen und vor welchen Vergangenheitseinflüssen das geschah und geschieht.
3. Diskurse ( sensu Foucault) aus dem Untergrund oder die Einflüsse der Geschichte
Die Charta war und ist ein Bündnis, entstanden u.a. unter dem antizipierten (und inzwischen eingetretenen) Druck der Kostenträger, den Normierungen einer Psychotherapiegesetzgebung (in den Nachbarländern seit längerem zu Gange), dem Druck der Konkurrenz von Psychologen und Medizinern, der Konkurrenz unter den Therapieschulen selbst, die in einer solchen Situation fatal ist, dem Druck der Strukturen des Gesundheitssystems, dem Druck der Öffentlichkeit. Das alles sind "Diskurse der Macht" (sensu Foucault 1977, 1978, 1984), die "von den Seiten" aus der aktualen Gegenwart wirken und gegen die man sich zusammengeschlossen hat, gegen "Aggressoren von außen", denen man mit "innerer Solidarität" entgegentreten will (in Deutschland sind die Bündnisse im Gesetzgebungsprozeß schnell gebrochen, bis hin zu Vorgängen, die man als Verrat bezeichnen könnte. Man möge das als Negativbeispiel warnend im Gedächtnis behalten). Diese externalen Einwirkungen haben Auswirkungen, die in der Diskurskultur zum Tragen kommen können, wenn sie nicht in dekonstruktiven Prozessen (Derrida) offengelegt und berücksichtigt werden.
Weiterhin ist zu sehen, daß die Colloquien in einem Felde der Psychotherapie stattfinden, das einen bislang eher von "ekklesialem Streit" (Petzold 1995h) gekennzeichneten Stil rechthaberischer Geltungsbehauptungen praktizierte – keineswegs aber einen wissenschaftlichen Diskurs oder einen agogischen. Es waren konkurrente Kampfdiskurse. Warum das so war, welche Funktionen das hatte, müßte diskursanalytisch (Foucault 1966; Dauk 1989; Petzold, Orth 1999; Bublitz et al. 1999) und dekonstruktivistisch (Derrida 1972; Parker 1999) untersucht werden, damit nicht "anonyme Diskurse" der Macht (Foucault 1976, 1984; Dauk 1989) und der Ausgrenzung aus dem Untergrund der Vergangenheit zur Wirkung kommen, etwa in den aktualen Diskursen, wie sie bei den Colloquientreffen zur Sprache kommen, oft unbemerkt von den Diskutierenden. Das Erkennen der Wirksamkeit "anonymer Rede", von Diskursen als determinierenden Mustern und "Dispositiven der Macht" in Institutionen, ihren Kontexten (siehe die Kontexte der Charta), ihren Regeln (siehe die Regularien der Charta), ihren "Kulturen", die auch die Diskurse/Diskurse ihrer Protagonisten und Repräsentanten durchfiltern, ist für die Analyse von Theorien und ihrer Traditionen von größter Bedeutung, um verdeckte Genealogien, Mechanismen dysfunktionaler Macht, der Ausgrenzung und Ausschließung und deren Aus- und Nachwirkungen zu erfassen: in der Psychotherapie der Diskurs der "Pastoralmacht" (Foucault 1982), beim Aufklärer Freud immer wieder – von ihm unbemerkt - der Diskurs der Triebrepression (z.B. "Wo Es war, soll Ich werden. Es ist Kulturarbeit etwa wie die Trockenlegung der Zuydersee" Freud 1933a, StA I, 516). Beim Proponenten sozialer Gerechtigkeit und Herrrschaftsfreiheit Habermas ist es (unbemerkt von ihm) das Diskurs-Modell selbst, in dem das mächtigste Instrument der Herrschaft der Privilegierten, der Diskurs in geschliffener bürgerlicher Hochsprache und Argumentationskunst, als Remedium gegen unterdrückende Herrschafsverhältnisse angeboten wird. Bei dem "Wissenschaftsvorbehalt" der Charta sind es letztlich die Diskurse der Medizinalmacht als Kontrollmacht einerseits und der Macht ökonomisierter und damit minimalisierter sozialstaatlicher Gemeinwohlorientierung und Fürsorgepflicht andererseits, die aus dem Hintergrund zum Tragen kommen und festlegen wollen, was zweckmäßig, wirtschaftlich und wissenschaftlich ist – ohne Einbezug der Betroffenen, der Patientinnen und der therapeutischen Praktiker. – Kein Wunder, daß letztere sich wehren wollen, besonders weil sie spüren, daß Wissenschaft in diesem Kontext politisch funktionalisiert wird, um die "Freiheitsdiskurse" (Petzold, Orth, Sieper 1999, 2000) der Subjekte einzuschränken und die Möglichkeiten der Psychotherapie als emanzipatorischer Praxis und "eingreifender Wissenschaft" (Bourdieu 1997, Leitner 2000; Sieper, Petzold 2001) zu neutralisieren.
Nimmt man diese Kontexte, Hintergründe und Untergründe nicht in den Blick, so besteht die Gefahr, daß sie sich im Chartaprozess und in den Colloquien selbst artikulieren und sich unbemerkt – den bewußten Intentionen der Beteiligten entgegenstehend – durch sie selbst manifestieren. Foucaults bedeutende Analysen solcher Vorgänge und die Arbeiten seiner Schüler (Bublitz et al. 1999; Petzold, Orth 1999; Petzold, Ebert, Sieper 2000) haben das wieder und wieder gezeigt. Dabei sind Wirtschaftlichkeit und Zweckmäßigkeit keine unbilligen Zielsetzungen, in deren Dienst Wissenschaft durchaus zu stellen wäre, wenn die Maßstäbe mit Blick auf das Wohl der Betroffenen und unter ihrer Beteiligung ausgehandelt würden, also in den Entscheidungsraum demokratischer Prozesse gestellt wären und hier ist die offensive berufspolitische Arbeit der Verbände gefordert. Könnten sie (z. B. FSP und SPV) sich in diesen Anliegen solidarisieren, in wirklicher Solidarität mit ihren PatientInnen und KlientInnen – in der Öffentlichkeit würde ein solches Engagement sicher gut aufgenommen werden. Würde Wissenschaft – und das kann sie – begründende Argumentationen für eine nicht minimalistische Behandlungsorientierung, die präventive und salutogenetische Maßnahmen einbezieht, liefern, so wäre sie im besten Sinne eine "engagierte und eingreifende Wissenschaft" (Sieper, Petzold 2001), die das Wohl von Betroffenen im Auge hat, was sich durchaus mit Objektivitätsansprüchen verbinden läßt.
Die Psychotherapie, ihre "Schulen", Organisationen, Repräsentanten müßten sich allerdings mit den Gegenwarts- und Vergangenheitseinflüssen in ihrer "Kultur" auseinandersetzen, nicht zuletzt mit dem "Diskurs ekklesialen Streites". Dann böten Unternehmungen wie die Wissenschaftscolloquien der Charta – durchgeführt als Diskurse (Habermas) oder Ko-respondenzprozesse (Petzold) - auf jeden Fall die Chance, eine schon allzulange währende Kultur der Nichtzurkenntnisnahme der anderen Position zu beenden. Aber hier müßte auch schon die Frage ansetzen, wie sorgfältig und ernsthaft, d.h. mit welcher Bereitschaft zu Konsequenzen für die Revision eigener Positionen werden die Konzepte der anderen Chartamitglieder aufgenommen? Blickt man auf die Feedbackkommentare, so sind diese in Bezug auf ihre Substanz durchaus aussagefähig und gäben u.E. Anlaß für Metaanalysen und -reflexionen etwa unter der Perspektive ihres Ertrages für inhaltliche Präzisierung, Weiterführung und Auswirkungen auf das eigene Denken. Es könnten weiterhin die Kulturen des apologetischen Disputes, der "wechselseitigen Abwertung" (nicht zu verwechseln mit der strittigen Gegenrede, dem qualifizierten Dissens im Wissenschaftsdiskurs) aufgegeben werden, die bislang in der Psychotherapiegeschichte vorherrschend waren.
Blicke in die Psychotherapiegeschichte – bist in die Gegenwart - sind hier unverzichtbar. Positionen wie die von Grawe (1998) im Schlußkapitel seines magnum opus, daß man wegen der vielen Irrtümer der traditionellen Schulen (und solche Irrtümer sind zweifelsohne da, wie ginge es auch anders) ihre Positionen liegen lassen müsse und ganz von neuem mit der Entwicklung einer neuen, psychologischen bzw. allgemeinen Psychotherapie beginnen solle. Diese steht aber nicht jenseits der historischen Diskurse. Grawe beachtet dabei nicht, daß in ihren Ursachen nicht aufgearbeitete Irrtümer die Tendenz haben, sich im Neuen zu reproduzieren. Überdies steht man immer auf jemandes Schulter. Man muß einfach einmal auf Freuds Umgang mit seinen Vorläufern und Quellen schauen: Schopenhauer, Nietzsche, Janet – um einige wichtige zu nennen -, auf seinen theoretischen Hegemonialanspruch sowie den Stil seiner Auseinandersetzung und dem seiner Paladine (E.Jones, K. Abraham, H. Sachs u.a.) mit "Dissidenten". Man kann dann sehen, welche Traditionen damals in der Psychotherapie begründet wurden. Dabei muß man aber die persönlichen und zeitgeistbedingten Hintergründe Freuds betrachten, denn nur dann kann es zu einer angemessenen Beurteilung und fruchtbaren Kritik kommen und zu keinem unbilligen "Freud bashing". Es wird dann allerdings auch der Blick frei, sich auf die "Gewalt von Theorie" und die Macht der Leitfiguren in "communities" von PsychotherapeutInnen zu richten, ein Paradigma, für das Freud historisches Vorbild war und ist. Nur dann betreibt man keine Hagiographie und kann Derridas (1992) "Être juste avec Freud" einlösen. Man kann so auch auf eine Unkultur blicken, wenn Freud etwa von "Adler und seiner Bande" oder dem "heren und brutalen Jung" spricht (vgl. Gay 1989) – Steckel und Tausk wurden noch drastischer attackiert, Ferenczi und Rank wurden massiv pathologisiert, Reich wurde von der Orthodoxie mit einer Qualität der Existenzvernichtung verfolgt (Nagler 1998; Petzold 1998e). Es hatte sich ein Klima des Umgangs herausgebildet, von dem schon Max Graf (1942), der Vater des "kleinen Hans", schrieb, daß es ihn an die dogmengeschichtlichen Auseinandersetzungen und wechselseitigen Exkommunikationen in den arianischen Wirren der Kirchengeschichte erinnere. Diese Art des Umgangs ist nun keineswegs beendet, wie die Ausgrenzungspolitik der "Richtlinienverfahren" Psychoanalyse/Tiefenpsychologie und Verhaltenstherapie in der Bundesrepublik Deutschland in der jüngsten Vergangenheit und der Gegenwart zeigt (neuerliche Ablehnung der systemischen Therapie, des Psychodramas und der wissenschaftlichen Gesprächspsychotherapie nach Rogers). Daß dies offenbar nicht nur ein Problem der Psychoanalyse ist, sondern der hegemoniale Anspruch "wahrer Lehre" offenbar alle Therapieverfahren "ergreifen kann", wenn sich die Gelegenheit bietet, ist am Beispiel Hollands zu sehen, wo z.B. neben Psychoanalyse, Verhaltenstherapie, Systemikern die "experientielle Therapie" anerkannt wurde, in concreto die Rogerianer, die sich indes nicht dazu durchringen konnten – Petzold hatte seinerzeit an ihre Vereinigung entsprechende Anträge gestellt -, andere "experientielle" Verfahren, z. B. die Körperpsychotherapie oder die abgelehnte Gestalttherapie, mit "ins Boot zu nehmen" - und das war bzw. ist nun keineswegs voll. Die Decke der Toleranz und das Band banaler Kollegialität sind ohne diskursanalytische Durchforstung der Untergründe und ohne den festen Entschluß und Willen (Petzold 2001i) zu einer anderen, einer solidarischen Praxis "fundierter Kollegialität" dünn (Petzold, Orth 1998). Eine "Politik der Freundschaft" (Derrida 2000) bedarf größerer Investitionen und eines Blickes, der Gefährdungspotentiale nicht ausblendet und die Bereitschaft zur eigenen Verläßlichkeit selbstkritisch betrachtet. Wir sind in der Charta in einem guten Prozeß, andere Wege zu gehen als die, die im Felde der Psychotherapie üblich waren (und z.T. noch sind).
Weil die Lasten der Geschichte im Feld der Psychotherapie nicht aufgearbeitet wurden, das ist unsere These, ist es in der Psychotherapie - einer Disziplin und Profession, bei der es doch um Verstehen und Verständnis, um Kommunikation und Kooperation geht – so schlecht bestellt mit genau diesen Qualitäten im Umgang zwischen den "Schulen". Psychotherapeuten und ihre Communities müßten sich schon lange die Frage gestellt haben, warum das "Miteinander" so schwierig ist, keine Kultur konstruktiven Streits vorhanden ist und warum positive Ansätze, die es ja durchaus gab, so wenig durchtragen konnten, obwohl PsychotherapeutInnen ex professione auf verborgene Motive, Hinter- und Untergründe gerichtet sind. Das gesamte Feld – international, von wenigen Ausnahmen abgesehen (Pohlen, Bautz-Holzherr 1994) – weicht diesen Fragen aus. Die "Charta" müßte u. E. diese, bislang noch nicht thematisierten Fragen stellen, weil sie nun seit vielen Jahren mit beachtlichen Erfolgen ein anderes Modell zu realisieren bestrebt ist, obgleich es ja "an den Rändern des Feldes" zur "community" der klinischen PsychologInnen/PsychotherapeutInnen (zusammengeschlossen im FSP) genügend Probleme gegeben hat und gibt und – in anderer Art – auch zur "community" der ärztlichen bzw. psychiatrischen PsychotherapeutInnen. Es lohnt sich deshalb auch auf Ansätze zu ähnlichen Unterfangen in der Psychotherapiegeschichte zu schauen, etwa das weitgehend vergessene Wirken von Pierre Janet, der eine integrative Psychologie vertrat, oder die erste "Integrative Psychotherapiekonferenz von 1940" wie sie Rudolf Sponsel (2000) dankenswerter Weise der "communmity of psychotherapists" wieder zur Kenntnis gebracht hat und an der so bedeutende Protagonisten der Psychotherapie wie Alexandra Adler, Frederik Allen, Eleanor Bertine, Joseph O. Chassell, Helen Durkin, Carl R. Rogers, Saul Rosenzweig, Robert Waelder, Goodwin Wastson teilnahmen (Schlußkommunique im Anhang 2). Auch hier findet sich ein Diskurs von Praktikern, die – sofern sie auch Wissenschaftler waren – den wissenschaftlichen Diskurs deutlich dem praxeologischen nachordneten – ähnlich wie es in den Chartacolloquien im konkret vollzogenen Gespräch bei den Treffen geschieht. Dabei wurde eine Menge an "common ground" gefunden, aber selbst dort waren die Verständigungsprozesse nicht einfach:
"Unsere Diskussion hat einen Grund dafür aufgezeigt, warum Menschen den Eindruck bekommen, daß es zwischen den verschiedenen Exponenten der Psychotherapie nur wenig Übereinstimmung gibt. Wir fanden es schwierig, unsere Aufmerksamkeit auf unsere weiten Bereiche der Übereinstimmung zentriert zu halten und schienen unwiderstehlich zu dem einen Punkt der Kontroverse hingezogen" (Waston in Sponsel 2000, Anhang 2). Warum das so war, diese Frage wurde nicht gestellt. Sie kann hier nicht von uns auch nicht vertieft behandelt werden (vgl. Petzold, Orth, Sieper 1999, 2000). Einige Schlaglichter: Es geht bei den Macht-Diskursen in der Psychotherapie häufig um offene und verdeckte Ansprüche von "Deutungsmacht" (Pohlen, Bautz-Holzherr 1994), um die Privilegien der "richtigen Auslegung", die Sicherung von "Sinnmonopolen", den Anspruch auf Heilungskompetenz (früher sprach man von "Vollmacht", "Auftrag" und "Amt" in der "Verwaltung der Gnadenmittel") und um das Wissen des "rechten Weges" (Orth, Petzold 1999). Auch in säkularisierter Form ist die Macht des Heilens und der Existenzauslegung eine vielschichtige Größe, in der vielfältige Diskurse zusammenlaufen.
4. Wissenschaftlichkeit und die Verpflichtung zu "patient security", "best practice" und "patient dignity" - therapieethische und heilkunderechtliche Perspektiven Heute allerdings ist die Situation eine andere als 1940. Fragen der Qualitätssicherung und Evaluation stehen aufgrund des Kostendrucks im Raum, aber auch aufgrund der therapieethischen und heilkunderechtlichen Forderung nach "best practice" (Dobson, Craig 1998), auf die die PatientInnen ein Recht haben (Müller, Petzold 2001; Märtens, Petzold 2001). Die letztgenannten Aspekte werden noch kaum berücksichtigt, sind aber mit einer Eingliederung der Psychotherapie in das Medizinalsystem - wie in der Bundesrepublik Deutschland, in den Niederlanden, in Italien und auch in Österreich geschehen - relevant geworden. In den Ethikregularien des SPV bzw. der Charta findet sich vom Prinzip der "best practice" noch nichts prägnant ausformuliert. Für die somatische Medizin ist es allerdings völlig einsichtig, daß PatientInnen mit Medikamenten und Operationstechniken behandelt werden, die "evidenzbasiert" sind und auf dem neuesten Stand der Heilkunst. Deshalb ist Wissenschaftlichkeit auch heutzutage in ganz anderer Weise von der Öffentlichkeit gefragt und müssen sich Psychotherapeuten mit ihren Fachverbänden und Communities der Forderung nach einem "Wissenschaftlichkeitsnachweis" stellen und zwar nach den Regeln, die ein demokratischer Staat mit seinem Rechtssystem (einschließlich der ergangenen obergerichtlichen Rechtsprechung in diesen Fragen) vorgibt. Und damit kommt noch eine ganz andere Dimension ins Spiel, die man streng von den sozialer Dynamiken, Macht- und Verteilungskämpfen im Feld scheiden muß, um Probleme nicht zu konfundieren. Therapieethische Maximen wie "informed consent", die umfassende Information des Patienten, u.a. - wie schon erwähnt - rechtlich verpflichtend über "Risiken und Nebenwirkungen" von Psychotherapie (Märtens, Petzold 2001) erfordern Forschung zu Risiken wie Suizidalität, psychotischer Dekompensation, der malignen Übertragung, der psychosomatischen Reaktionsbildung, der Verschärfung der Symptomatik, der Verschlechterung des Allgemeinbefindens. All das ist ja möglich, auch bei "lege artis" durchgeführten Behandlungen und das Thema der "Kontraindikationen" ist meistens in Meinungen, okkasionellen Erfahrungen gegründet, aber nicht in systematischer Forschung. Zuweilen finden sich auch Methodenartefakte (Was bewirkt plötzliche Belastung eines Patienten durch ein kritisches Lebensereignis bei einem abstinent-zurückgenommenen Therapeutenstil, was bei einem supportiven? Was ist supportiv? – alles offene Fragen!). Dem Thema der Nebenwirkungen in der Integrativen Therapie (Otte 2001) haben wir in unseren Forschungsprojekten zu unserer Methode Aufmerksamkeit geschenkt (erfreulicherweise mit positivem Ergebnis, vgl. Petzold, Hass, Märtens, Steffan 2000). Die Schadensforschung steht bei uns und ingesamt im Feld noch in den Anfängen und sie kann letztlich nur im nomothetischen Paradigma geleistet werden (ergänzt durch hermeneutische bzw. qualitative Explorationen). "Patient security" als therapieethisches und heilkunderechtliches Postulat erfordert Forschung, die überprüft, wann und wodurch "gefährliche Therapie" gemacht wird, und das betrifft nicht nur unprofessionelles oder unethisches Handeln, sondern eventuell auch als "akzeptiert" geltende Techniken, deren störungsspezifischen Risiken nicht genug bekannt sind (eventuell Konfrontationsmethoden, Expositionverfahren, bestimmte Imaginationspraktiken, Deutungstechniken oder Behandlunsgsettings). Dabei müssen natürlich derartige Forschungsaktivitäten selbst wieder in einen kritischen Ethikdiskurs gestellt werden, ob sie etwa dem Prinzip der "patient dignity" genügen (Müller, Petzold 2001), denn die Würde des Patienten ist (wie die des Menschen) leider durchaus antastbar – auch durch Forschung. Und die forschungsethischen Probleme für eine seriöse Praxis der Psychotherapieforschung sind erheblich. Das gilt sowohl für das nomothetische wie für das idiographische Paradigma. Die Probleme des Freudschen "junctims" von Forschen und Heilen beispielsweise sind bei gründlicher Reflexion dieser Konstellation erheblich, werden doch die Momente der intersubjektiven Zugewandtheit und die der objektivierenden Beobachtung konfundiert, was bei schweren Persönlichkeitsstörungen in gravierende Schwierigkeiten führen kann oder bei PTBS-PatientInnen mit ihrer traumabedingten oft hohen Sensibilisierung gegenüber Objektivierungen ggf. zu Retraumatisierungen (Petzold, Wolf et al. 2000).
Wenn – und das behaupten alle Verfahren und einige können dies auch hinlänglich nachweisen – Psychotherapie wirkt, dann kann sie auch Nebenwirkungen haben – oder: Weil Psychotherapie Nebenwirkungen hat, hat sie auch Wirkungen (Märtens, Petzold 2001). Hier stehen Fragen im Raum, die nicht unbearbeitet bleiben dürfen. Die Öffentlichkeit – zunehmend kritisch der Psychotherapie gegenüber eingestellt – erwartet hier Antworten.
Ein "Wissenschaftlichkeitsvorbehalt" für psychotherapeutische Verfahren läßt sich von einem solchen Hintergrund her sehr wohl substantiieren und würde eine Begründung für das Unterfangen der Colloquien liefern, die sich aus den ethischen Maßstäben der Charta herleiten lassen und aus rechtlichen Normen des Patientenschutzes. Ein solcher Referenzrahmen für die Wissenschaftlichkeit erfordert auch die Entscheidung für ein spezifisches Wissenschaftlichkeits- und Forschungsparadigma: zumindest die Kombination von nomothethischer und idiographischer Forschung. Natürlich sind damit nicht die ganzen Fragestellungen eines Wissenschaftlichkeitsvorbehalts abgedeckt, aber doch prioritäre Positionen benannt. Aus heilkunderechtlichen und therapieethischen Gründen müßte man an erster Stelle fordern:
ein Wissenschaftlichkeitsvorbehalt kann nur aufgehoben werden, wenn ein wissenschaftlicher Nachweis über die (weitgehende) Freiheit von Risiken und Nebenwirkungen für das Verfahren erbracht worden ist.
Die Konsequenzen einer solchen Position für die Charta wären in gemeinschaftlichen Investitionen in den "patient security" zu sehen etwa mit schulenübergreifenden Forschungsprojekten zu positiven Wirkungen und zu Nebenwirkungen, so daß ein solcher "Wissenschaftlichkeitsvorbehalt" aufgehoben werden könnte. Es wäre damit auch die bestmögliche Außenlegitimation gegeben.
5. Wissenschaftlichkeitsvorbehalt und kollegiale Solidarität
Psychotherapieschulen und -verbände, Zusammenschlüsse wie die Charta haben eine identätssichernde Funktion für ihre Mitglieder. Damit geht automatisch ein exkludierendes Moment einher, das für identiätsstiftende "communities" als strukturelles Charakteristikum solcher Gemeinschaften gesehen werden muß und aus exzentrischer Position reflektiert und relativiert werden sollte. Es kann sonst zu einem sozialpsychologisch durchaus bekannten Mechanismus der "Ausgrenzung der Außenstehenden", der Fremden, Andersartigen, Nicht-Affilierten kommen, wodurch Angrenzung, Offenheit für Neues, Wertschätzung von "Andersheit der Anderen" (Levinas 1983; Petzold 1996j) verhindert werden könnte.
In der Charta sind alle Momente positiven Aufeinanderzugehens gegeben und ist eine Praxis vertrauensvollen Miteinanders entstanden - "hinlänglich" vertrauensvoll sollte man wohl sagen (good enough, Winnicott) -, die durch die Reflexion gefährdender Untergründe gesichert werden muß, denn die Möglichkeiten der Verunsicherung sind stark, wenn es zu der Frage der Aufhebung des Vorbehalts kommt, da dahinter noch eine weitere Frage steht: die der kollegialen Solidarität für den Zeitpunkt, wo gesetzliche Regelungen Standards setzen, die vielleicht nicht dem "Geist der Charta" entsprechen, und dann wird es sich erweisen, ob die "Institution Charta" für ihre Mitglieder – für alle, die sie aufgenommen hat – einstehen will und kann. Damit kommt der Frage der Aufnahme von Mitgliedern in die Charta - eine große Bedeutung und Sorgfalt zu (wir haben hier stets aus antizipatorischer Sorge, nicht aus "vorauseilendem Gehorsam", das ist bekanntermaßen nicht unsere Sache, zu strengen Maßstäben gemahnt). Denn: man kennt ja eigentlich die Ansprüche der Bewertung von Wissenschaftlichkeit und sollte hier nicht die Augen davor verschließen, was in den einzelnen richtungssetzenden Räumen verlangt wird: 1. im akademischen Raum – und der ist nicht unbedeutend und seine Maßstäbe sind auch nicht einfach abzutun -, 2. im klinischen Raum – etwa mit dem Kriterium der Verbreitung und dem Effizienzerweis von Verfahren in Kliniken – sowie 3. im legislativen Raum – man kennt die Standards, die im Kontext des niederländischen, bundesdeutschen, italienischen und österreichischen Psychotherapiegesetzes festgeschrieben wurden. Zumindest an die österreichischen, recht liberalen Standards könnte/müßte man sich halten, will man eine hinlängliche Sicherheit gewährleisten, nicht zuletzt für die Ausgebildeten, denn um deren Berufsausübung geht es und die hat die Charta durch ihre Zulassung mitzuverantworten (ggf. bis hin in den haftungsrechtlichen Bereich, wenn Nichtgewährleistung nicht ausdrücklich ausgeschlossen wurde, das wäre jedenfalls zu prüfen). In Österreich aber wurden – bedauerlicherweise - bislang die Körpertherapien nicht aufgenommen (Ausnahme neuerlich die "Konzentrative Bewegungstherapie", ein leibphänomenologisches Verfahren, kein klassischer Ansatz der Körpertherapie also). Nun muß man auch sagen, daß sich die Körpertherapien bislang mit dem Nachweis von Wissenschaftlichkeit in der internationalen "community of psychotherapy research" schwer tun und damit ihrem Einbezug immer wieder gewichtige Stimmen entgegenstehen (letztlich noch massivst im niederländischen Psychologenverband NIP nach einer Fachtagung für Körpertherapie [2000] oder von Seiten des psychoanalytischen Mainstreams durch Thea Bauriedel [1998] u. a. mit ihrer dezidierten Kritik an T. Moser). Damit wird u. E. die Vielfalt der Sichtweisen eingeengt – von beiden Seiten: der der Körperverfahren, die sich nicht hinreichend in Forschungskontexten engagieren, und der der Psychotherapieforscher, die bislang diesem Bereich kaum Aufmerksamkeit schenkten. Es stellt dann allerdings sich auch die Frage, ob die Charta mit ihrem Einbezug der "neuen Körpertherapien" (Petzold 1977n) gegen den Diskurs der Ausgrenzung des Körpers, dem schon Reich zum Opfer fiel (neben dem der Ausgrenzung des Politischen in der Psychotherapie, dessen Protagonist er war) aufstehen will und diese unbequeme und nicht unbedingt favorable Position auch in externalen Ansprüchen für Anerkennungen und in Annerkennungskämpfen durchzuhalten gewillt ist, denn daß es dazu kommen kann, das ist schon jetzt abzusehen, und das erfordert die offene Thematisierung in der Charta: Wen ist diese "Charta community" bereit, ohne wenn und aber in kollegialer Solidarität zu vertreten, "if it all comes down to dust" (Leonard Cohn, The sacrifice of Isaak)? – zumal, das muß man klar sehen, bei anstehenden Kassenregelungen das andere Verfahren auch eine Konkurrenz ist.
Es ist deshalb zu thematisieren, inwieweit der "Wissenschaftlichkeitsvorbehalt" nicht zu einer Art des "sekundären Screenings" gerät oder geraten kann, in dem nicht doch noch andere Diskurse zu Tragen kommen, als "der Wille zur Wahrheit und der Wille zum Wissen" (vgl. Foucault 1980, 1988, 1998), sondern – wie auch immer geartete - Manifestationen eines "Willens zur Macht". Erfolgt diese Thematisierung nicht, so wirken Befürchtungen aus dem Hintergrund und dann können sich zu Bedrohungen aus dem Kontext Kräften des Mißtrauens aus dem Untergrund addieren.
6. Interdisziplinarität und transdisziplinäre Diskurse – Feststellung von Wissenschaftlichkeit in der Charta: Problematisierungen und Vorschläge
Im Bereich der Wissenschaften – diese Position vertreten wir als Wissenschafler engagiert - ist es fatal, wenn Diskurse ausgegrenzt werden, auch wenn sie aus Nebenströmen kommen, denn Innovation ist keineswegs nur eine Sache der "main streams". Wissenschaft braucht für den Erkenntnisfortschritt die "anderen Stimmen", denn sie ist vielstimmig (sensu Derrida), Stimmen allerdings aus Diskursen, die sich als wissenschaftlich definieren und den Regeln wissenschaftlicher "communities" (und da gibt es verschiedene) folgen. Sie braucht "strittige Diskurse" (Habermas 1971, 1973) – kein Gezänk -, Pluralität von Sichtweisen, die um die Heteroglossie (Bakhtin 1981), um die Verschiedensprachigkeit moderner Kultur weiß, sich bewußt ist, daß wissenschaftlicher Fortschritt in der Differenz liegt und Konformität oder Homogenität in die Stagnation führen. Das "wertgeschätzte Differente" ermöglicht übrigens auch Integrationen (plur.) und zuweilen "Transdisziplinarität" (Petzold 1965, 1998a, 26f; Mittelstrass 2001) im Sinne übergreifender Erkenntnisse. An den Grenzen unterschiedlicher Areale des Wissens – das sei wegen seiner Wichtigkeit nochmals zitiert - an den Grenzen solcher "Heterotopien ... flammen Blitze des Werdens auf" (vgl. Foucault 1998). Mit einer solchen Sicht ist keineswegs ein harmonistischer, Unterschiede einebnender Zugang gemeint, sondern die Auseinander-setzung um das "bessere Argument" in einer universell ausgreifenden Hermeneutik (Habermas 1980, 1981), nach der man sich wieder zusammen-setzen kann. Das ist durchaus charakteristisch für eine diskursive, ko-respondierende Wissenschaftskultur, die durch Konsens- und Dissensprozesse zu übereinstimmenden Konzepten oder zu differenten, ja divergenten Konzepten kommen kann. Sie sind in ihrer Vielfalt Bild der Mannigfaltigkeit der Realität, Ausdruck eines Polylogos, der aus vielstimmigen Dialogen (im Sinne der Dialogkonzeption Mikhail M. Bakhtins 1981 – nicht der theologisierenden Dialogik von Martin Buber 1928) hervorgegangen ist. Aus Polylogen – d.h. interdisziplinären, interkulturellen Ko-respondenzen (Petzold 1978c, 1991e) – kann pluraler, polychromer Sinn in vielfältigen Brechungen des "Lichtes der Erkenntnisse" aufscheinen (idem 2001k).
Die von der Charta durchgeführten Colloquien bringen VertreterInnen verschiedener "Schulen" oder – und das ist terminologisch vielleicht angemessener – Orientierungen (Kriz 1996) bzw. "Mesoparadigmen" (Petzold 1992g) der Psychotherapie zusammen (round table model), um über bestimmte Konzepte und Positionen in Austausch zu treten, und ein solcher themenzentrierter "interdisziplinärer Diskurs" ist in der Tat im Felde der Psychotherapie selten. Selbst multidisziplinäre Veranstaltungen sind nicht allzu häufig. Die Chartacolloquien haben einen multi- und zuweilen interdisziplinären Charakter (wobei man mit dieser Aussage Verfahren und Methoden in der Disziplin der Psychotherapie exakterweise als Subdisziplinen bezeichnen müßte, aber das tut der Systematik keinen Abbruch). In einer von Petzold (1988t) für Kulturarbeit, Psychotherapie, Supervision und Metaconsulting entwickelten Systematik (idem 1998a, 27f; Petzold. Ebert, Sieper 1999) wird wie folgt differenziert: - Monodisziplinarität, in ihr bearbeiten die Disziplinen voneinander isoliert ein Problem; sie wird überschritten in - Multidisziplinarität, in welcher die Disziplinen bzw. ihre Vertreter in einfacher Juxtaposition an einem Thema arbeiten und Ergebnisse austauschen; - Interdisziplinarität geht darüber hinaus, wenn die Disziplinen aus ihrem spezifischen Fundus heraus sich im Bezug auf ein Thema koordinieren (round table model), d.h. ihre Möglichkeiten differentiell diskutieren – durchaus auch kontrovers -, sie abgestimmt einsetzen und miteinander kooperieren. - Transdisziplinarität indes ermöglicht einen Grad der Ko-respondenz der Beteiligten, eine Dichte der Konnektivierung (Petzold 1998a, 131, 176) disziplinspezifischer Erfahrungen, Wissensbeständen und Praxen, eine Bereitschaft, aufeinander zu hören, eigene Positionen zu hinterfragen oder zurückzustellen und voneinander zu lernen, so daß neue, die vorgängigen Eigenheiten der Disziplinen und Positionen der Fachvertreter transgredierende Erkenntnisse und Methodologien emergieren, denn E m e r g e n z wird bei der Vernetzung komplexer Systeme (ibid. 41, 240) durch den Zusammenfluß von Informationen, Kompetenzen und Performanzen, im K o n f l u x kokreativer Zusammenarbeit als "Synergieeffekt" möglich (ibid.132, 267f, 318). Transdisziplinarität braucht und erhält Vielfalt, überschreitet sie aber auch bei bestimmten Problemstellungen immer wieder und ist dabei niemals Privileg einer einzelnen Disziplin oder Disziplingruppe (der Geisteswissenschaften etwa, so Mittelstrass 2001).
Wie schon im Colloquium IV von uns ausgeführt, wurde bislang im Unterfangen der Chartacolloquien versäumt, die Diskursregeln festzulegen bzw. das Diskursmodell zur Festellung von Wissenschaftlichkeit explitzit zu machen. Die Unklarheit über die Diskursziele, die Zielgeber (Wer gab welchen Auftrag?), die Maßstäbe der Beurteilung und die Konsequenzen des Prozesses (Ausschluß? Nach welchen Kriterien? Mit welchen Mehrheiten? Auf welcher Rechtsgrundlage?) beeinträchtigen das Prozedere und machen es auch vom Demokratieverständnis und von der vereinsrechtlichen Basis her problematisch – von der wissenschaftstheoretischen und wissensoziologischen einmal ganz zu schweigen. Das ist bedenklich und bedauerlich, weil damit eine historisch einzigartige Chance vergeben werden könnte oder doch zumindest beeinträchtigt wird und aufgebautes Vertrauen beschädigt werden kann.
Das "explizite Ziel" der Colloquien ist die Aufhebung eines "Vorbehaltes bezüglich der Wissenschaftlichkeit". Ein solches Ziel greift aber mit den vorgegebenen Rahmenbedingungen u. E. in vielfacher Hinsicht zu kurz. Es sollte deshalb – wie auf dem Colloquiumstreffen V schon begonnen - problematisiert und ergänzt werden. Wir sind auf Problematisierungen schon ausführlich in unserer "Stellungnahme I" eingegangen (Petzold, Sieper 2000, siehe im Anhang). Deshalb nur einige Ergänzungen.
6.1 Problematisierungen:
6.2 Vorschläge für die Anerkennung von Ausbildungsinstituten:
Wir gehen davon aus, daß die Wissenschaftlichkeit eines Verfahrens und die wissenschaftliche Fundiertheit eines Ausbildungsinstituts prinzipiell zu unterscheiden sind.
Im Colloquiumsprozess der Charta scheint diese Unterscheidung zuweilen verwischt, und es wäre zu fragen, wer da was in den Colloquien repräsentiert. Welchen Status haben Ausbildungsinstitute, und sind sie befugt und bevollmächtigt, in einem solchen Prozeß ihre "scientific community" zu vertreten (in der Regel einen qualifizierten Fachverband, qualifiziert, weil er z. B. eine internationale Anbindung hat).
Ausbildungsinstitute sind in der Regel keine Einrichtungen der Forschung und haben nur eingeschränkte Möglichkeiten für einen Wissenschaftsbetrieb. Deshalb sollte man u. E. nicht zwingend wissenschaftliche Arbeit und insbesondere Forschungstätigkeit von ihnen verlangen, weil eine seriöse Qualität – auch und gerade im sehr aufwendigen Paradigma moderner "qualitativer Forschung" – nicht gewährleistet werden kann. Forschung bedarf unabdingbar eigenen Forschungspersonals. Das ist in der Regel bei den Mitgliedsinstitutionen (vgl. Colloquium VI) nicht vorhanden. Es gäbe aber verschiedene Möglichkeiten, die Wissenschaftlichkeit von Mitgliedsinstitutionen der Charta in ihrer Ausbildungstätigkeit zu gewährleisten und zu dokumentieren, die den Erfordernissen qualifizierter wissenschaftlich fundierter Ausbildung – und darum geht es - vollauf entsprechen würden. Nachstehend einige Vorschläge, über die man diskutieren kann. Dabei wurden beispielhaft Kriterien gewählt, die wir an unserer Einrichtung EAG/SEAG zu sichern bemüht sind bzw. gewährleisten. Und von denen wir nicht erwarten, daß sie übernommen werden. Aber vielleicht ist eine konkrete Vorstellung nützlich. Wir vertreten die wissenschaftlichen Positionen und die curricularen Standards unserer "scientific community", dem Zusammenschluß unserer internationalen Dozentenschaft (lt. Akademiesatzung des Landes NRW) und die Standards unsere Fachverbandes, der (DGIK), und der verschiedenen nationalen Verbände, die "Integrativen Therapie" vertreten (Kroatien, Niederlande, Norwegen, Österreich, Schweiz, Serbien, Slovenien) und uns als Ausbildungsinstitut anerkennen. Wissenschaftlich pflegen wir überdies Rückbindung an die Diskussionen in der internationalen "Society for the Exploration of Psychotherapy Integration" (SEPI), deren deutsche Sektion wir vertreten.
Für Ausbildungsinstitute kann Wissenschaftlichkeit auf zwei Ebenen gewährleistet werden:
a) durch einen produktiven Wissenschaftsbetrieb – eigene emprische Forschung, substantielle Beiträge zur Theorieentwicklung, dokumentiert durch Publikationen in reviewed and listed Journals oder in Buchveröffentlichungen in wissenschaftlichen Reihen und Verlagen (vgl. den Tätigkeitsbericht unseres Forschungsinstituts Petzold, Märtens et al. 1998);
b) durch einen rezeptiven Wissenschaftsbezug, d.h. durch den dokumentierten Anschluß an Forschung und Theorienbildung eines oder mehrerer anerkannter wissenschaftlicher Verfahren, was wir als eine Voraussetzung dafür betrachten, um eine wissenschaftlich fundierte Ausbildung anzubieten.
1. Das bedeutet in der Regel Anschluß an
2. Dieser Wissenschaftsbezug und die Nutzung der gegebenen Wissensstände muß in die didaktische Praxis des Ausbildungsinstituts nachvollziehbar umgesetzt und dokumentiert werden (so daß Überprüfungen stattfinden können durch
3. Praxeologische und qualitätssichernde Evaluationen der Ausbildungsarbeit durch elaborierte Ausbildungsevaluationen, vorgenommen durch das Ausbildungsinstitut selbst und durch Fremdevaluationen oder in einer Kombination von beidem (vgl. z.B. Petzold, Hass et al. 1998; und die detaillierte Übersicht von Petzold, Steffan 2000).
Jedes dieser Kriterien ist geeignet, die wissenschaftliche Fundierung eines Ausbildungsbetriebes zu dokumentieren, einige erscheinen uns unverzichtbar.
6. 3 Vorschläge für die Anerkennung/Nichtanerkennung von Verfahren
Die Anerkennung bzw. Nichtanerkennung von Verfahren hat unzweifelhaft Rückwirkungen auf das Ansehen und die "trustworthyness" der Charta und damit für die Chancen der Mitgliedsverbände und Einrichtungen, in gesetzliche Regelungen einbezogen zu werden. Deshalb sind Aufnahmepolitik und Anerkennungspraxis für alle Chartamitglieder und für die AusbildungskandidatInnen von vitalem Interesse. Sie wären deshalb nochmals sorgfältig zu reflektieren, um für die Zukunft und mit Blick auf den Umgang mit dem "Wissenschaftsvorbehalt" ausgewogen vorzugehen, ohne daß dabei eine "closed system" Situation für neue Initiativen und Ansätze entsteht.
Wir möchten der Charta vorschlagen, von der Anerkennung von Verfahren abzusehen, die
6. 4 Vorschläge zur Dokumentation der wissenschaftlichen Anschlußfähigkeit und fachlichen Orientierung von Ausbildungsinstituten und therapeutischen "Sonderformen"
Wissenschaftliche Anschlußfähigkeit an die Grundlagenwissenschaften, Referenzdisziplinen, an Psychotherapieforschung und an Grundorientierungen - auch mainstreams oder "Mesoparadigmen" genannt (Kriz 1996, Petzold 1993g) - ist für fundierte und "sichere" Psychotherapie und eine Entwicklung in Richtung von "best practice" unverzichtbar. Eine solche Anschlußfähigkeit kann wie folgt dokumentiert werden:
Schlußbemerkung
Wir hoffen, daß wir mit diesen tentativen Überlegungen in unseren Stellungnahmen I und II einen förderlichen Beitrag für den Chartaprozess und die Arbeit in den Colloquien leisten können, Anregungen zu Reflexionen zu geben vermögen, die für die Aufgaben, die vor der Charta als unserer "community" liegen vor dem Hintergrund der "community of psychotherapists and patients", weiterführend sind, etwa auch in der Einladung von VertreterInnen von Patientenverbänden, die unsere PartnerInnen und KundInnen in der Psychotherapie repräsentieren und deren "Zertifizierung" für die Charta ein öffentlichkeitswirksamer Gewinn wäre. Wir hoffen auch, daß das Projekt der Charta Strahlkraft für das psychotherapeutische Feld gewinnt, um Gräben zu überwinden und die Qualität der Psychotherapien als Disziplin und Profession voranzubringen.
Hilarion G. Petzold, Johanna Sieper
"Stellungnahme I zum Prozedere " nach dem 1. Chartacolloquium
Als Mitgliedsinstitut der Charta möchten wir uns an die anderen Mitgliedsinstitute und an unsere Kolleginnen und Kollegen wenden. Wir sehen mit der Enquête 2 auf die Institute eine immense Belastung zukommen, die die Realitäten der Ausbildungsinstitutionen u.E. nicht berücksichtigen, und die zu einer erneuten Reflexion des gesamten Projektes Anlaß geben sollten, denn wenn es eine Legitimationsfunktion nach "außen" haben soll, kann sie so nicht erreicht werden, wenn sie eine Konsolidierungsfunktion nach "innen" haben soll, wird sie mit anderem Anspruch und in anderer Form durchgeführt werden müssen (z.B. durch gemeinschaftlich veranstaltete Theorieprogramme oder kontinuierliche Arbeitsgruppen, durch einen institutionalisierten Polylog aller Beteiligten zu Fragen der Theorie, Forschung, Praxeologie, Praxis, Ethik). Wir haben uns seinerzeit mit einigem Aufwand an der Enquête 1 beteiligt und unsere Texte dazu publiziert (Petzold, Sieper, Rodriguez-Petzold 1995a). Das Ergebnis haben wir bis heute nicht in detailierter Auswertung mit Publikation der Materialien gesehen, und so konnte nicht öffentlich diskutiert werden, was denn so "schief lief", dass man heute schreibt, dass "es so nicht geht". Ohne kritische Evaluation und ohne vorauslaufende Akzeptanzstudie (vgl. Hass, Märtens, Petzold 1998) geht man nun in die Enquête 2. Ein überlastiger Fragenkatalog wirft in einseitig (nur das stört uns) geisteswissenschaftlicher und tiefenpsychologischer Orientierung eine ganze Palette ungeklärter Probleme auf, ohne daß die Problematiken, die sich aus der Komplexität und Qualität der ersten Untersuchung ergaben, ausgewertet wurden. Das Projekt, die "Wissenschaftlichkeit" von Mitgliedsverfahren im Rahmen der Charta über Colloquien festzustellen, sehen wir als ein interessantes Experiment. Zu seiner Anlage und zu seinen Voraussetzung haben wir allerdings grundsätzliche - und inzwischen durch die Aufnahmeprozeduren von neuen Mitgliedsanwärtern gewachsene - Bedenken. Auch wenn wir diese erst spät äußern können, meinen wir, dass sie überdacht werden sollten, nicht zuletzt weil dieses Projekt eine lange Laufzeit hat und Zwischenreflexionen über seine Qualität, seine Weiterführung oder die Art seiner Weiterführung eingebaut werden sollten. Einige Punkte seien aufgeführt, ohne daß wir in die Detailprobleme der einzelnen Fragenkomplexe eingehen können und wollen.
Für übergeordnete Positionen wie das (moderne) Wissenschaftsverständnis oder den Wissenschaftsbegriff - mit mehr als hundert Jahren Diskussion und Vorarbeiten ist es nicht möglich (und nicht wünschenswert), wenn jede Gruppe in "Gruppenprozessen" ihre "eigenen Formulierung", Begrifflichkeiten und Begründungen findet, es sei denn als ein "Projekt", dessen Ergebnisse in den Diskurs der "Scientific Community" und - bei Forschungsfragen - in die "Community of Researchers" oder bei Fragen der Berufspraxis (z.B. Qualitätssicherung, Wirschaftlichkeit etc.) in die "Professional Community" zu übergeordneter Konsensfindung zurückgeleitet werden.
Wir, die Autoren, arbeiten seit über dreißig Jahren wissenschaftlich im Bereich der Psychotherapie in Forschung, klinischer Praxis, Lehre, Ausbildung und Supervision (Petzold, Sieper 1970, Petzold, Rodriguez-Pezold, Sieper 1998; Sieper, Petzold 1993, 2001). Wir sind in der Theorienbildung (Petzold, Orth, Sieper 1999, 2000) ausgewiesen, nicht zuletzt in der ideologiekritischen Auseinandersetzung mit den Mythen, Macht- und Freiheitsdiskursen, und wir haben quantitativ und qualitativ geforscht, wir haben zahlreiche neue Behandlungsmethoden entwickelt und alte in neuen Feldern eingesetzt. Wir leiten seit 30 Jahren ein international arbeitendes großes Ausbildungsinstitut. Vor diesem Hintergrund und aus dieser Erfahrung wissen wir, was seriöse Forschung und fundierte Theorienbildung bedeutet und müssen sagen, daß "es so nicht geht". Eine Umwidmung des Projektes der Colloquien hingegen könnte sich als sehr fruchtbar erweisen und das Potential der Charta als ko-respondierende Gemeinschaft, die in fundierter Kollegialität (Petzold, Orth 1997) Erkenntnisprozesse im Felde der Psychotherapie vorantreibt, in fruchtbarer Weise aktualisieren.
Univ.-Prof. DDDr. Hilarion G. Petzold
Approbierter psychologischer Psychotherapeut und Kinder- und Jugendlichen Psychotherapeut BRD, Psychotherapeut nach dem Österreichischen Psychotherapiegesetz, Lehrtherapeut, Lehrsupervisor, Kontrollanalytiker. Lehrstuhl für Psychologie, klinische Bewegungstherapie und Psychomotorik, Freie Universität Amsterdam. Wissenschaftlicher Leiter EAG, Vis. Prof. für Psychotraumatologie und Supervision und wissenschaftlicher Leiter des Magisterstudiengangs Supervision an der Donau-Universität Krems, Zentrum für psychosoziale Medizin. SGIPT - Gesellschaft für Allgemeine und Integrative Psychotherapie - Deutschland
Dr.phil. Lic. theol. Johanna Sieper,
Pädagogische Leiterin der EAG, Lehrtherapeutin, Kotrollanalytikerin, Lehrsupervisorin
Stellvertretende Vorsitzende des Prüfungsausschusses der EAG
Europäische Akademie für Psychosoziale Gesundheit, Düsseldorf
Anhang 2
Die Integrative Psychotherapiekonferenz 1940 von Rudolf Sponsel, Erlangen Aus: WATSON, G. Areas Of Agreement In Psychotherapy. Section Meeting, 1940. In: Ame- "CLOSING SUMMARY BY THE CHAIRMAN
Vorbemerkung: An der Diskussion nahmen teil (Aufzählung im Text s.o.): Man erkennt an der Zusammenfassung des Diskussionsleiters unschwer die Einflüsse der Humanistischen PsychotherapeutInnen. Dieses Gespräch zwischen den Schulen ist nun, im Jahre 2000, 55 Jahre alt. Und wo stehen wir jetzt?
rican Journal of Orthopsychiatry 10. P. 708 - 709.
Our discussion has illustrated one reason why people get the impression that there is little agreement among various exponents of psychotherapy. We found it difficult to keep attention centered on our wide area of agreement, and seemed irresistibly drawn to the one point of controversy. On that issue of non-intervention'' we seem to have reached the conclusion that psychoanalysis did give much of the initial impetus toward a relationship in which the therapist tries not to let his own values influence the patient, and that the past twenty years have seen all other psychotherapies move toward much the same ideal.
We found reason to agree with Dr. Chassell's observation that if we were to apply to our colleagues the distinction, so important with patients, between what they tell us and what they do, we might find that agreement is greater in practice than in theory. Despite the various names under which we work and our various backgrounds of training we all seem agreed upon many essentials of psychotherapeutic practice.
First, we have found no apparent disagreement on objectives. We all hope to increase the client's capacity to deal with reality, to work, to love, and find meaning in life. For all of us the relationship of therapist and client has been a central factor. We have stressed the need to provide a security which fosters spontaneity. We have seen the treatment relationship as social adjustment under artificially simple conditions, but as a step in socialization. We have recognized that as the therapist meets the oft-used patterns of the patient in an unexpected, fresh and revealing way, the patient is stimulated to new growth. We have urged that the therapist must so understand his own needs as to prevent their unconscious domination of the relationship. Our relationship with the client is an identification controlled
in the client's best interests.
We have all stressed, as a third area of agreement, the importance of keeping responsibility for choice on the client. Growth occurs especially as he becomes able to achieve integration of will'' making his own decisions and carrying out the implications of new insights earnestly, responsibly, and with increasing independence. As Dr. Allen put it, It is what (clients) do about themselves that is therapy.''
A fourth concept which has seemingly been accepted by us is that good psychotherapy enlarges the client's understanding of himself. We encourage but do not guide expression. We direct attention to dreams, to art, to phantasy, to verbal sequences and to behavior. We try to help the individual accept responsibility for more of his feelings than he previously could. We recognize that interpretation of his past may be useful if it illumines for the client his tendencies in the present. The psychoanalyst says, Where was id, there shall ego be.'' The analytical psychologist accepts this and adds, at least for some persons, Keep working at that synthetic, creative, partly spontaneous process of growth whereby each realizes his unique indivisible individuality.'' Every psychotherapy assumes that in the client there are important impulses and connections, some half-conscious, some repudiated, some unconscious, which need to be assimilated in a more complete and truer self-awareness.
We have agreed, negatively, not to try to treat symptoms in superficial isolation from the structure of the personality. We do not believe that mere catharsis of feelings is therapeutic. We distrust advice and exhortation. We have agreed further, I think, that our techniques cannot be uniform and rigid, but vary with the age, problems and potentialities of the individual client and with the unique personality of the therapist.
Finally, we all have recognized that what the therapist can contribute depends in large measure upon his own character. He should be mature, objective, constant, with insight into his own problems and freedom to live with integrity. A therapist has nothing to offer but himself.'' " (p. 708 f)
"
Wer hat das Recht, die Pflicht und den Mut, die Wahrheit zu sprechen?" (Foucault 1996, 25).Denn: Wahrsprechen, d.h. "Parrhesia, erfordert den Mut, trotz einer gewissen Gefahr die Wahrheit zu sprechen."(ibid. 15). Qualitätsstandards, die letztlich dem Patientenschutz dienen, stehen im Hintergrund des Colloquiumprozesses, daran sei erinnert! Und das würde eine strikte Haltung bedeuten, strenge Maßstäbe, die anzulegen wären. Aber wer kann das durchtragen, will das durchfechten (auch noch mit einer Chance, ein Abstimmungsmehr zu erreichen) gegen Kolleginnen und Kollegen, mit denen man so lange schon in einer guten Qualität von Kooperation, in "fundierter Kollegialität" (Petzold, Orth 1998) zusammengesessen hat? Allein schon aus diesen Gründen - so meinen wir -, obwohl wir das auf einer bestimmten Ebene auch sehr bedauern, muß der "Wissenschaftlichkeitsvorbehalt" als Zielsetzung der Colloquien fallengelassen bzw. umformuliert werden, ohne daß damit der Qualitätsanspruch im Sinne der PatientInnensicherheit zu kurz kommen darf.
Wenn es nur darum ginge, gegen die Hegemonie des nomothetischen Wissenschaftsparadigmas ein Zeichen zu setzen und etwa für "sophisticated research", die Kombination von qualtitativen und quantitativen Forschungsansätzen einzutreten, würde es auch reichen, zum Abschluß der Chartacolloquien ein qualifiziertes Manifest zu einer inter- und transdisziplinären Wissenschaft und zu methodikpluraler Forschung zu verfassen und Publikationen auf den Weg zu bringen, die dies substantiieren.
Die durchaus diskutable Aufnahmepraxis der Charta in den letzten Jahren (von unserer Seite wurden oft genug um den Preis der Arroganzzuweisung und jedesmals ohne Erfolg Einwände geltend gemacht), die Zulassung unter Mentorenschaft gerade in jüngster Zeit macht es nach unserem Dafürhalten nicht möglich, den erhobenen Wissenschaftlichkeitsanspruch seriös einzulösen. Nachdem ich (Petzold) schon einmal mit den Kollegen Rauber und Hobi eine Mentorenschaft für die Charta übernommen hatte - die erste überhaupt - und wir diese mit dem Aufweis von prozedurealen Problemen und der Bitte um Klärung der Kriterien mit einer befürwortenden Stellungsnahme abgeschlossen haben, wurde mir freundlicherweise gerade wieder eine Mentorenschaft angetragen. Ich habe sie abgelehnt. Bei der derzeitigen Ungeklärtheit bezüglich der Kriterien für "Wissenschaftlichkeit" halte ich es nicht für verantwortbar, den Kolleginnen und vor allem den Ausbildungskandidatinnen dieser Richtung gegenüber, eine Mentorenschaft zu übernehmen und Hoffnungen zu wecken, zumal ich meine, daß es mit nur etwas Übersicht und Feldkenntnis klar sein müßte: auch wenn man nur Minimalkriterien an Wissenschaftlichkeit, wie sie international unter den "scientific communities" doch hinlänglich konsensfähig sind, zugrundelegt, erscheint es mir nicht möglich, das diese Richtung (wie auch einige andere!) allein schon aufgrund der fehlenden wissenschaftlichen Infrastruktur, Forschungsaktivitäten und fachlicher Internationalität (es geht doch nicht um die Zahl der "Gruppen", die man quer über Europa hat) die Aufhebung eines Wissenschaftlichkeitsvorbehaltes erhalten können wird. Und so lange der das Kriterium ist, kann man keine Mentorenschaft antreten. Mit einer solchen Aufnahmepraxis - und dem zugleich vorgetragenen Anspruch auf Wissenschaftlichkeit - sehen wir die Anliegen der gesamten Charta und ihre Glaubwürdigkeit in Gefahr. Wir können uns es nicht vorstellen, daß die Verfahren in der Charta, die mit Fug und Recht für sich einen wissenschaftlichen Status beanspruchen können, es sich leisten wollen (und ggf. auch können) mit einem Wissenschaftlichkeitsniveau einig zu gehen (und danach auch im Außenfeld gelabled zu werden "Chartaniveau"), das das Label der "Wissenschaftlichkeit" nicht verdient zusammen mit Verfahren, die Wissenschaftlichkeit derzeit auch nirgendwo sonst als in der Charta (so dies dann geschieht) erhalten würden.
Wir konkretisieren diese Aussage derzeit bewußt nicht, nicht nur, weil wir der Abschlußbewertung nicht vorgreifen wollen, sondern weil dies u. E. insgesamt eine wenig fruchtbare Sache ist und hier keine Lösung zu finden ist, sondern gute Kollegialität aufs Spiel gesetzt wird. Es ist auch schon die Reaktion von KollegInnen auf diese Thematiersierung von unserer Seite antizipierbar. Aber offene Rede war in der Charta stets möglich! Und wir kommen um dieses Thema nicht herum.
Als Lösung schlagen wir "weichere Kriterien" vor, weniger ansprüchliche: wissenschaftliche fundierte Ausbildungen in einem "main stream", dem man angehört, und dem Wissenschaftlichkeit zugesprochen werden kann.
Wie gesagt, dies ist ein Vorschlag, der neben einer detailierteren Situationsanalyse in den anhängenden Papieren begründet wird.
Wir hoffen, unsere Ausführungen tragen zu einer klärenden Diskussion bei. Wir möchten, damit nicht im Vagen bleibt, mit einem formalen Antrag abschließen - wobei wir (typisch für unsere prozedurale?) Uninformiertheit nicht genau wissen, an wen dieser zu richten ist. Wir bitten um Weiterleitung an die richtigen Entscheidungsträger. Antrag (to whom it may concern):
Wir beantragen als Mitgliedsinstitution aus Verantwortung für den Charta- und den Colloquiumsprozess nach innen und nach außen die Klärung der in der Zwischenbilanz des letzten Colloquiumtermins zum Ausdruck gekommenen ungeklärten Fragestellungen und der sich daraus ergebenden Probleme (wie sie u.a. auch in unserer seinerzeitigen "Stellungnahme I zum Prozedere" nach dem 1. Colloquium im März vergangenen Jahres [im Anhang] aufgeworfen wurden). Insbesondere beantragen wir, von der Zielsetzung der Colloquien "Aufhebung des Wissenschaftsvorbehaltes" abzugehen, weil sie u. E. aus inhaltlichen, strukturellen, prozeduralen (und ggf. auch rechtlichen) Gründen so nicht realisierbar ist (Begründungen nachstehend): Andere Möglichkeiten (event. Überprüfung einer "wissenschaftlich Fundiertheit von Ausbildungen") sind zu diskutieren. Prozedurale Klarheit ist zu gewährleisten.
Wir halten es für unerläßlich, die Colloquien fortzusetzen, allerdings mit veränderten Zielsetzungen und geklärten Vorgehensweisen.
Wir beantragen weiterhin, daß zu den Kolloquien VertreterInnen von Patientenverbänden bzw. -stiftungen als Beobachter oder KoreferentInnen eingeladen werden, um die Meinung unserer PartnerInnen und KundInnen zu diesen Fragen zu hören und Stimme der Betroffenen berücksichtigen zu können.
Mit kollegialen Grüßen
Für SEAG/EAG
Dr. Hilarion G. Petzold und Dr.Joanna Sieper